Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
hatte es gesehen, wie auch dem Vater Tränen über die Wangen gelaufen waren. Die nüchterne Feststellung des Kindes hatte die Trauernden erschüttert.
„Mama hat mich angelogen, eure Tränen sind gar nicht alle im Meer!“, hatte es trotzig gesagt.
„Eure Tränen sind gar nicht alle im Meer!“ Johannas leerer Blick war auf das spiegelglatte Gewässer gerichtet.
„Bitte?“, fragte Stetten verwirrt. Inzwischen hatten die Offiziere unbemerkt zu den anderweitig gefesselten Damen aufgeschlossen und sahen nun Johanna stirnrunzelnd an. Stetten stieß auf, sie habe bereits gestern beim Anblick der grenzenlos scheinenden Wasserfläche etwas merkwürdig dahergeredet.
„Oh, ich war in Gedanken. Sie entschuldigen mich bitte! Wo komme ich am schnellsten zum Strand hinunter?“ Johanna hatte Feststellung, Entschuldigung und Frage ohne jede Modulation und übergangslos aneinandergereiht. Die beiden Offiziere schauten erst sich, dann die jungen Damen fragend an. Johanna machte immer noch ein merkwürdig entrücktes Gesicht, als hätte sie eine Maske aufgesetzt.
Margitta half mit einer Erklärung aus, zumindest glaubte sie, es sei eine Erklärung.
„Johannas Vater ist dort unten“, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.
Stetten zog die Brauen hoch, weil ihm nichts Besseres einfiel. Trebbow war offenbar genervt und ließ sich zu einer sarkastischen Bemerkung hinreißen. „Oh, wie überaus unaufmerksam von uns. Wie konnte uns diese Tatsache nur so lange verborgen bleiben.“
Margitta beantwortete seine Bissigkeit mit einem Achselzucken und signalisierte damit, der gräfliche Besuch sei anscheinend nicht die selbstverständlichste Angelegenheit der Welt.
Die Offiziere tauschten kurz einen wissenden Blick aus.
„Wir sind hier ungefähr auf der Hälfte des Weges, um hinunter an den Strand zu gelangen, Komtesse. Möchten Sie zurück in Richtung Badehaus oder in die entgegengesetzte Richtung. Oben im Wald mündet ein Bach ins Meer. An seinem Bett öffnet sich die Steilküste. Sie können dort ohne Gefahr hinuntergehen.“
Stetten bot Johanna den Arm an und machte so deutlich, sie auf jeden Fall zu begleiten, welche Richtung sie auch einschlagen wolle.
Die Aussicht auf seine Gesellschaft war tröstlich, konnte sie jedoch nicht beruhigen. „Gut“, sagte sie mit einem wächsernen Lächeln, „dann führen Sie uns bitte an den Bach. Hoffentlich macht mein Vater unten am Strand nicht zu früh kehrt. Ich möchte ihn gern überraschen.“ Sie lächelte tapfer und unterdrückte ihre Angst, die sie vor plötzlichen väterlichen Besuchen hatte. Eine Todesnachricht anlässlich einer solchen Begegnung war für das ganze Leben genug.
„Franz, ich meine, es ging ihm doch gut, als Sie meinen Bruder das letzte Mal gesehen haben?“, fragte sie zaghaft, gleich darauf biss sie sich auf die Unterlippe und schalt sich im Stillen, schon hysterisch zu werden. Jedoch Stettens Reaktion auf ihre Frage, die zugegebenermaßen nicht zum Thema passte, kam ihr seltsam vor. Er hatte Trebbow einen Blick zugeworfen, den sie nicht einordnen konnte. Zugleich wehrte sie sich gegen den Eindruck, wie eine Kranke behandelt zu werden, der man keine schlechten Nachrichten zumuten dürfe.
Sie versuchte ihre beunruhigende Beobachtung abzutun, vermutlich war sie hysterisch.
„Tja, bis auf den Kater, den unser Franz nach unserem gemütlichen Beisammensein hatte pflegen müssen, ging es ihm großartig“, versicherte nun Trebbow leichthin.
Da! Da war er wieder, dieser Blick, diesmal retour zu Stetten. Johannas Herz krampfte sich zusammen.
Der Vorsprung von Madame und Elvira schmolz dahin. Baronin von Plessen hatte die Bequemlichkeit einer Bank zum willkommenen Anlass genommen, auf den Anschluss ihrer Schützlinge zu warten. Elvira unterhielt sich angeregt mit einem Herrn, der an einer Leine ein kleines Hündchen ausführte. Über dessen Possierlichkeit herrschte offenbar Einigkeit.
Madame amüsierte sich über die plötzliche Schwatzhaftigkeit der Gouvernante. Seitdem Demoiselle Engelmann mit ihrer Ohnmacht ungewollt in den Mittelpunkt der Badegesellschaft geraten war, erkundigte sich jeder, der zufällig Zeuge des Ereignisses geworden war, nach ihrem Befinden und wünschte baldige Genesung.
Es dauerte auch nicht mehr lange, da zeigte sich Madame keineswegs erstaunt, ihre Schützlinge in Begleitung zu sehen.
Margitta wurde es zum eigenen Ärger erneut bewusst: Mütter scheinen beunruhigend viel zu wissen.
„Oh, was für ein angenehmer Zufall, Sie
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