Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
des Grafen bemerkte. „Wenn Sie der Sage glauben schenken wollen, so entstammt die Steinaufhäufung tatsächlich göttlichem Willen. Aber damit ist der Damm, der sich weiter östlich vor der flachen Niederung erhebt, gemeint.“ Borowsky drehte sich um und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. „Hier hinter der Steilküste braucht man keine Sturmflut zu fürchten“, erzählte er ungerührt, obwohl die spiegelglatte See weiterhin vorgab, niemals etwas anderes als sanft und zahm zu sein. „Die Zisterziensermönche des Doberaner Klosters sollen vor Jahrhunderten bei einer schweren Sturmflut einen Damm aufgeschüttet haben, zum Schutz des Klosters und ihrer Felder. Doch das Meer riss den kümmerlichen Hügel fort, der das Werk langer und schwerer Arbeit gewesen war. Den frommen Mönchen blieb nichts anderes übrig, als zu beten und so erflehten sie den Schutz des Herrn. Der Sturm legte sich wohl noch in derselben Nacht. Und als die verschont gebliebenen Mönche an die Küste wanderten, entdeckten sie einen steinernen Damm, der fortan der Heilige Damm genannt wurde, weil sie ihre Gebete durch den Schöpfer erfüllt glaubten.“
Der Graf blieb stehen und schaute auf die glatte See. Eine sehr lange Dünung bewegte das Wasser fast unmerklich, dessen Oberfläche wie eine träge Ölschicht wirkte.
„Wenn man die Ostsee so erlebt, kann ich den Leichtsinn der Mönche nachvollziehen, nicht bereits vor der Sturmflut Schutzmaßnahmen getroffen zu haben. Sie sagten, das Wasser hätte sogar Doberan erreichen können.“
„Tja, hinter dem Heiligen Damm beginnt eine ausgedehnte Niederung, deren Niveau noch unter dem Meeresspiegel liegt und von Bächen und Gräben durchzogen ist. Das Meer wäre in eine riesige Wanne gelaufen, der Rückstau der Bäche hätte die Flut bis in die Klostermauern getragen, wo gleich zwei der munteren Gewässer durch das Klostergelände fließen. Außerdem kann man den damaligen Küstenverlauf, die Beschaffenheit der Wiesen und Äcker keineswegs mit dem heutigen Zustand der Gegend gleichsetzen. Doberan soll in der Zeit der Klostergründung ein einziger Sumpf gewesen sein, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.“
„Sie kennen sich in der örtlichen Historie ja ausnehmend gut aus, Baron.“
„Ach, wenn Sie des Öfteren den schönen Flecken aufsuchen, kennen Sie auch bald die Geschichten, einschließlich der Anekdoten, die sich über den Großherzog hinter vorgehaltener Hand erzählt werden.“
Der Graf lachte und winkte ab.
„Dazu müsste ich nicht nach Doberan fahren, in Ludwigslust pfeifen die Spatzen solche Geschichten von den Dächern.“
„Oh, nun ja, so ein langer Witwerstand ist gewiss ungeheuer anstrengend und kostspielig obendrein. Wie viele ‚von Mecklenburg‘ gibt es eigentlich schon?“ Borowsky erhielt keine Antwort. Erschrocken fiel ihm ein, dass der Graf schon länger Witwer war als sein gleichaltriger Landesherr. Angestrengt suchte er nach einer halbwegs annehmbaren Entschuldigung für seinen Fauxpas.
„Sie müssen nicht so bissig sein, Borowsky, so ein Gottesgnadentum macht aus einem Menschen noch lange keinen Gott. Wir sind alle mit unseren Stärken und Schwächen in dieses Leben hineingeboren, das schon mal erbarmungslose Tiefen bereithält. Und das Schicksal macht auch um einen Großherzog und dessen Familie keinen Bogen. Sehen Sie, unserem Erbgroßherzog ist bereits die zweite Frau gestorben und im April hat der Herr auch noch seinen Sohn zu sich genommen. Der kleine Prinz Magnus hat nicht einmal seinen ersten Geburtstag erlebt. Es würde mich nicht wundern, wenn Seine Hoheit Friedrich Ludwig an einer solchen Prüfung scheitern sollte.“ Der Graf wusste, wovon er sprach. Doch er konnte sich damit trösten, kein Kind verloren zu haben. „Gott gebe, dass mir diese Prüfung nicht auferlegt wird“, murmelte er kaum hörbar dem Meer zugewandt.
„Sie beschämen mich, Graf“, gab Borowsky bekümmert zu, „entschuldigen Sie bitte meinen unüberlegten Einwurf. Sie haben natürlich recht. Jedem muss es selbst überlassen bleiben, wie er sich sein Leben einrichtet.“
„Tun Sie mir den Gefallen und meiden in Zukunft das betrübliche Thema. Sie wissen doch noch, weshalb wir zu unserem Spaziergang aufgebrochen sind?“ Der Graf lächelte nachsichtig.
„Selbstverständlich, wir sind auf der Suche nach Ihrer Tochter“, antwortete Borowsky beflissen wie ein Schüler, der den Stock des Lehrers vor Augen hat. „Aber ich bezweifle, dass ein weibliches Wesen
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