Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
einen solch steinigen Küstenabschnitt zum Promenieren wählen würde.“
„Womit wir beim eigentlichen Thema wären, wo kommen die vielen riesigen Findlinge her, die nicht nur an der Küste, sondern über das gesamte Land verstreut sind. Auf Hohen-Lützow haben wir gleich mehrere Hünengräber. Fangen Sie nicht wieder mit den üblichen Geschichten an“, drohte der Graf, „die steinschleudernden Riesen kenne ich schon. Außerdem räumen meine Leute nach dem Pflügen Jahr um Jahr Felssteine aller Größenordnungen vom Acker, man möchte meinen, die vermehrten sich wie Kartoffeln.“
„Ein äußerst interessantes Thema“, bestätigte Borowsky dankbar. „Unsere Altvorderen waren sich der paradoxen Gegenwart der Steine wohl bewusst, sonst hätten sie nicht ihre blühende Phantasie bemüht, von deren Auswüchsen Sie leider nichts hören wollen. Wissen Sie, rein wissenschaftlich betrachtet, handelt es sich bei den meisten dieser Steine um Granit, den es in natürlichen Vorkommen hierzulande gar nicht gibt.“
„Wo kommt er dann vor?“
„In den Nordländern zum Beispiel, das nächste mir bekannte Vorkommen ist Bornholms Nordküste.“
„Bornholm? Aber das liegt doch vor der südschwedischen Küste und die Nordländer erstrecken sich bis hoch zum Polarkreis. Manche Brocken sind zwar schön rund, aber ich bezweifele, dass sie bis nach Hohen-Lützow gekullert sind.“
„Sie machen mir Spaß, Graf!“ Borowsky lachte mit seinem volltönenden Bass. Auch der Graf lachte über seine Theorie, mit der er wohl bei jeder seriösen geologischen Gesellschaft durchgefallen wäre.
Der Charakter der Landschaft veränderte sich, der Strand wurde merklich breiter, feiner weißer Sand löste die allgegenwärtigen Steine zunehmend ab.
„Merkwürdig“, sagte der Graf und deutete auf seine Spuren, die sich im feuchten Sand abzeichneten. „Wie kann der Sand bei einem Schritt trocken und weich und beim nächsten Schritt nass und fest sein?“ Seine Frage blieb erst einmal unbeantwortet.
Die Steilküste teilte eine riesige, flach abfallende Kerbe, in der gerade ein junges Mädchen herunterkletterte. Wasser spritzte auf, als es über einen Abzweig eines Bachdeltas springen wollte. Es scherte sich nicht um den nass gewordenen Saum seines Kleides, sondern rannte, so schnell es konnte, auf die beiden älteren Herren zu.
„Johanna!“ Der Graf strahlte, schloss die Tochter in die Arme und wirbelte sie überschwänglich um die eigene Achse, gerade so, als wäre sie erst fünf Jahre alt. Er hatte jedoch ihr Gewicht unterschätzt oder seine Kraft überschätzt oder beides, denn er strauchelte bedenklich. Nur der kräftig zupackende Griff eines Offiziers konnte Vater und Tochter vor einem Sturz in die feuchte Bachmündung bewahren.
Alle strahlten und machten sich miteinander bekannt. Johanna lachte und zappelte vor Freude. Sie hatte den Vater vor ihrem Abstieg zum Strand einmal mehr durch das Theaterglas beobachtet. Als er und sein sympathischer Begleiter miteinander lachten, hatte es für sie kein Halten mehr gegeben. Überbringer schlechter Nachrichten sahen anders aus, das wusste sie.
Als sich die erste Euphorie gelegt hatte, konnte sich Baronin von Plessen nicht länger zurückhalten.
„Du liebe Güte, Sie versetzten mich in ehrliches Erstaunen, Graf, hatten Sie mir nicht erst am Montag versichert, unaufschiebbaren Terminen verpflichtet zu sein?“
Madame verstand es wirklich großartig, ihre Aufopferungsbereitschaft für das Wohl der Familie von Klotz in den Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft zu rücken. Der Graf lächelte abbittend und wies mit einer Kopfbewegung auf Borowsky. Der nahm die Geste zum Anlass, die Angelegenheit aufzuklären.
„Oh, vor Ihnen steht der lebendige Beweis für die Aufrichtigkeit unseres verehrten Freundes, Madame. Mein Nachbar war mit mir verabredet, er konnte nicht wissen, dass wir unsere Geschäfte hier in Doberan abwickeln werden. Ich hoffe, Sie freuen sich über das unvermutete Zusammentreffen.“
„Ich hätte es dem Grafen übel genommen, wenn er nicht hier unten am Strand gewesen wäre, schließlich habe ich mir Ihretwegen die Füße wund gelaufen.“ Madame wies vorwurfsvoll auf ihr nasses Schuhwerk.
„Ah, Sie haben uns von dort oben entdeckt, wie überaus raffiniert, sich nicht zu erkennen zu geben. Mein Kompliment, Madame. Ich sehe, Sie sind für Überraschungen gut.“
Während des Rückweges bemühte sich Baronin von Plessen nicht, Borowskys Irrtum aufzuklären.
Der Graf
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