Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
wurde von einem hysterischen Aufschrei einer älteren Dame unterbrochen, die zwei Stühle weiter neben Borowsky gesessen hatte. Inzwischen war sie in die Höhe geschossen und hatte bei ihrer Flucht ihren Stuhl mitgerissen, der nun scheppernd zu Boden fiel. Gespräche und Besteckklappern verstummten abrupt. Die Tafelmusik erstarb mit kläglichen Misstönen. Die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste war der erbleichten Dame gewiss, die sich krampfhaft an einer benachbarten Stuhllehne festhielt und gebannt auf das Tischtuch starrte, das bis zum Boden reichte.
Borowsky bückte sich in die Lücke und lüftete den weißen Damast, unter dem ihm ein entzückendes Paar runder Augen entgegenstrahlte.
Vom anderen Ende des Saales ertönten erregte Stimmen. Ein junges Paar strebte in Richtung der ängstlichen Dame.
Borowsky lachte dröhnend und zog zum Erstaunen der gesamten Gesellschaft einen ungefähr dreijährigen Knaben unter dem Tisch hervor und präsentierte ihn den erschrockenen Eltern.
Baronin von Plessen war von der wahren Identität des Fußdrückers herb enttäuscht. Der merkwürdige Blick des Grafen war nicht minder ernüchternd gewesen, doch sie hatte sich im Griff und kicherte amüsiert über den Streich des kleinen Jungen, der wohl auch bei einer Anzahl anderer Gäste zu Missverständnissen geführt haben dürfte. Zugleich stellte sie erleichtert fest, dass sie ihren Unterschenkel nur gegen ein Tischbein und keinesfalls an das gräfliche Schienbein gepresst hatte. Sie setzte eine würdevolle Miene auf und wartete schadenfroh auf die Entschuldigungsversuche des Grafen.
„Ach, was ich Sie noch fragen wollte, meine Liebe. Erweisen Sie mir gnädigst die Ehre, Sie zum Ball zu begleiten?“ Der Graf nahm abbittend Baronin von Plessens Hand und küsste sie galant.
Die Entschuldigung geriet erfreulicher als erwartet, Madame sah sich jedoch gezwungen, nicht gleich voller Freude zuzustimmen. „Oh, ich weiß nicht recht, ob ich meinem Fuß einen Ball zumuten kann, Sie erinnern sich noch an unseren ausgedehnten Spaziergang?“
Dezent daran erinnert, auch noch schuld am lädierten Fuß der Gnädigsten zu sein, konnte der Graf gar nicht anders, als ihr gut zuzureden.
„Nun gut“, meinte sie schließlich gönnerhaft, „wenn Sie mich so nett bitten, Graf, will ich gerne kommen. Aber beschweren Sie sich nicht, wenn ich die nächsten Tage für die Beaufsichtigung Ihrer Tochter nicht zur Verfügung stehe. Wann rechnen Sie mit der Ankunft Ihres Sohnes Franz?“
„Ich hoffe so früh wie möglich, vielleicht kommt er sogar schon heute Abend.“
Dem Grafen war bei dem Gedanken an ein Treffen mit Franz beklommen zumute. Ein Ball mochte unpassend sein, um so ernste Themen zu besprechen. Aber insgeheim war er für die Gelegenheit dankbar, Johannas Auftritt als Debütantin mitzuerleben. Die jungen Offiziere in der Nähe seines Kindes hatten ihn an Johannas Jugend und ihre Wirkung auf Männer erinnert. Auch Baronin von Plessen durfte nicht verärgert werden, Frauen waren eben doch Wesen, die nicht einfach auszurechnen waren. Außerdem erwartete Borowsky seinen Geschäftspartner. Der Nachbar wollte das Wiedersehen entsprechend feiern, dazu erschien ein Ballabend wiederum ein gut geeigneter Rahmen zu sein.
„Meine Tochter und ich freuen uns, Franz endlich kennenzulernen. Den jungen Mann haben Sie meinen Gesellschaften bisher erfolgreich vorenthalten. Kommt er in Johanns Begleitung?“
„Das ..., das glaube ich nicht, meine Liebe. Johann ist zurzeit nicht recht abkömmlich.“
„Ach so? Ich habe ihn dieses Jahr noch gar nicht in Ludwigslust gesehen! Verfolgt er Heiratspläne?“
„Ähm ..., nicht dass ich wüsste, aber meinetwegen kann er sich verloben, mit wem er will. Meinen Segen hat er.“
Baronin von Plessen unterdrückte eine Rüge, die ihr angesichts sträflicher Vernachlässigung väterlicher Pflichten auf der Zunge lag. Schließlich war Johann der Erbe des gräflichen Grundbesitzes und sein Vater blieb gewissermaßen verpflichtet, eine äußerst vorteilhafte Heirat für den Jungen zu arrangieren.
„Und Ihr Franz? Ist er immer noch gerne Soldat nach diesem furchtbaren Krieg?“, fragte sie aus einer Eingebung heraus. „Wie alt ist er überhaupt?“
Die Fragen überraschten den Grafen, kurz nachdem er sein Weinglas erhoben hatte. Seine Hand zitterte plötzlich und versetzte die tiefrote Flüssigkeit in Schwingungen. Er musste das Glas absetzen, wollte er nichts verschütten. Während er den eleganten Kelch mit
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