Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Arzt“, schlug er vor und runzelte fragend die Stirn.
Franz nickte mechanisch. Allerdings hatte er sich einen Funken Hoffnung bewahren können, nicht an Johanns statt an Frieders Grab zu stehen. Vielleicht, so dachte er, ist das Begräbnis meinem Bruder zu wichtig, um ihm fernzubleiben.
Franz brauchte eine Weile, um mit der Bitterkeit fertigzuwerden. Nachdem er sich einen Überblick über die Trauergäste verschafft hatte, sah er sich ein weiteres Mal in seiner Zuversicht getäuscht.
Bei seiner unauffälligen Musterung hatte er Henriette und die kleine Johanna entdeckt. Die Schwestern standen mit hochgezogenen Schultern und traurigen Gesichtern eng beieinander. Die Mädchen sahen inmitten dunkel gekleideter Menschen noch blasser aus, was angesichts der Umstände verständlich war. Über Johannas Wangen rollten unablässig Tränen oder waren es nur Regentropfen, wie Franz sich einzureden suchte. Er musste sich abwenden, der stumme Schmerz der kleinen Gesichter ging ihm sehr nahe. Um auf andere Gedanken zu kommen, richtete er sein Interesse auf eine Gruppe junger Männer, die etwas abseits stand. Sie trugen allesamt schwarze, knielange Röcke, deren Kragen und Ärmelaufschläge schmale rote Paspeln zierten. Zwei Reihen goldglänzender Knöpfe komplettierten ihre Aufmachung, die aussah, als hätte der Schneider eben erst den letzten Stich gesetzt. Schwarz-Rot-Gold, das waren die Farben des Lützower Freicorps, das, wie der Name schon sagte, sich aus Freiwilligen rekrutiert hatte. Die schwarzen Jäger unter Major von Lützow waren Männer und teilweise sogar Frauen, die sich als Männer ausgegeben hatten, die nicht nur ihr Leben freiwillig riskiert, sondern auch noch Kleidung und Bewaffnung auf eigene Kosten beschafft hatten. So nahm es nicht wunder, dass die Truppe recht bunt gewirkt hatte. Um wenigstens ein Minimum an Uniformität zu erreichen, waren die Monturen auf ausdrücklichen Befehl des preußischen Königs schwarz eingefärbt worden. Rote Kragenblenden und goldfarbene Knöpfe polierten die in allen Grautönen auftretenden Monturen etwas auf, die zum größten Teil Sachspenden aus der Bevölkerung entstammten.
Franz bezweifelte, dass auch nur einer der schwarzbetuchten Burschen an Frieders Grab der Truppe angehört hatte. Auszuschließen war es freilich nicht. 1813 erhielten die Lützower besonders viel Zulauf aus der Studentenschaft des nichtpreußischen Auslands. Dass sich die jungen Burschen hier die Farben des Freicorps ausgesucht hatten, deren schmucklose Zusammenstellung in Wahrheit nur aus der Not geboren gewesen war, konnte Franz jedoch nachvollziehen. Schwarz-Rot-Gold hatte Symbolkraft für den Einheitsgedanken, für das aufkeimende Nationalgefühl der Deutschen, die immer noch von so vielen Fürsten regiert wurden.
All die uniform wirkenden Trauergäste trugen einen Degen und Franz staunte nicht schlecht über die aufwendig gearbeiteten Waffen, die vielleicht schon ein Vater oder sogar Großvater an der Seite gehabt hatte. Franz suchte nach Hans-Georg, aber er stand ungünstig: schräg hinter der Gruppe. Doch dann fiel ihm ein Detail ins Auge. Ein junger Mann trug das Degengehänge an seiner rechten Seite, demzufolge war er Linkshänder. Interessiert starrte Franz den Hinterkopf des Linkshänders an, und war felsenfest überzeugt, dessen blondes Haar wachse auf Hans-Georgs Schädel.
So wie sich Ernst angehört hatte, rechnete er zumindest einen der Briefe Charlottes Vetter zu, vielleicht deshalb, weil er Hans-Georgs Handschrift kannte. Franz glaubte, die Existenz der „weißen Geheimnisse“ nur Johanns penibler Aufbewahrung zu verdanken. Sein Bruder hatte es offenbar nicht über sich gebracht, auch nur einen Schnipsel bekritzelten Papiers dem Feuer zu übergeben.
Es drängte Franz, sich mit Ernst darüber auszutauschen, doch der Moment verbot jedes Wort. Trotz der 60 Taler, die die Leichengesellschaft zweifellos ausgezahlt hatte, war der Sarg sehr einfach gehalten, der nun ins Grab hinabgelassen wurde. Frieder hatte gewiss nicht gewollt, dass seine Mutter mehr für die Verwahrung seiner sterblichen Hülle aufbrachte als unbedingt notwendig. Nur ein sorgsam in den Sargdeckel geschnitztes Kreuz hatte sie ihrem Sohn nicht vorenthalten, offenbar zum sicheren Geleit in sein nächstes Leben.
Frau Tanner – Franz brauchte sich nicht zu vergewissern, nur einer Mutter konnte am Grab ihres Kindes so ein Schmerz im Gesicht stehen – brach in Tränen aus. Ein grobschlächtig wirkender Mann mit
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