Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Lebzeiten so rührend um meinen Sohn gekümmert hat.“
Franz hätte Frau Tanner gern gefragt, ob sie wisse, warum Johann nicht hier sein könne, doch ihr prüfender Blick verschloss ihm den Mund.
Ihre Augen blieben an seinen Schulterstücken hängen. „Preußisch, nicht wahr?“
„Ja“, entgegnete er. Die „gnädige Frau“, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, verschluckte er gerade noch rechtzeitig.
„Frieder gehörte auch zu denen, die dem Preußenkönig gefolgt waren. Verkaufte all seine Bücher, um sich eine Schusswaffe und ein Seitengewehr zu beschaffen. Für eine Montur hat es nicht mehr gelangt, die haben sie ihm jetzt anstelle eines Leichenhemdes übergezogen!“ Frau Tanner schaute hinüber zu den schwarzberockten jungen Männern. „Da liegt er nun in seinem Grab, gehüllt in das beste Tuch, das er jemals besessen hat.“ Ihre Lippen bebten, als sie sich abwandte.
„Dann war Frieder bei den Lützowern!“
Frau Tanner konnte nichts von Franz’ Überlegungen wissen, die er über die Gehröcke der Burschen am Grab ihres Sohnes angestellt hatte. Jedoch seine Schlussfolgerung war ihr Anlass genug, die Unterhaltung fortzusetzen.
„Ja“, das Wort klang aus dem Munde einer Mutter nicht stolz, sondern bitter. „Als er fortging, glaubte ich, ich sehe ihn nie wieder. Wie glücklich war ich, als er nach gut zwei Jahren plötzlich in unserer Tür stand. In meiner Freude übersah ich seine hohlen Wangen und seine fiebrige Stirn, dachte, ich könnte ihn aufpäppeln. Aber es war nicht nur sein Körper, der ihn verzehrte, seine Seele war krank. Dort haben sie ihm einen unseligen Atem eingehaucht.“ Unsicher schaute sie sich um. „Er hat unaufhörlich davon gesprochen, dass seine vielen Kameraden nicht umsonst gefallen sein dürfen. Dass sich etwas ändern muss nach so vielen furchtbaren Opfern“, flüsterte sie und schaute sich wiederum scheu um, ob jemand in ihrer Nähe Anstoß an ihren Worten nähme.
Franz konnte Frieders Ansichten nachvollziehen, wenn er sie auch nicht teilte. Auch der Preußenkönig hatte seinem Volk eine Verfassung versprochen, weil es mit dem Blut vieler Söhne und unter finanziellen Opfern die Freiheit hatte teuer erkaufen müssen. Aber die Erfüllung des Versprechens ließ auf sich warten. Franz war jedoch kein Politiker, sondern Soldat. Er war Gehorsam gewohnt, Kritik an der Verfahrensweise seines obersten Dienstherrn kam nach seiner Ansicht einer Subversion gleich. Und doch – es gab Kritik und Franz glaubte auch, sie werde nicht zu Unrecht geäußert. Langsam dämmerte ihm, Frieders Gedankengut werde auch hier im Mecklenburgischen von der Obrigkeit als gefährlich angesehen und somit gefährde es auch diejenigen, die es propagierten. Franz schaute zu Ernst hinüber und verstand plötzlich dessen Sorge. Hans-Georg, Johann und alle anderen Burschen in den schmucken Röcken konnten wegen Verbreitung umstürzlerischer Ideen in Konflikt mit der Justiz geraten. Oder war es bereits geschehen? Saß Johann etwa in der Dömitzer Festung ein? Hatte der Erpresser Kenntnis von Johanns Aktivitäten erhalten und hatte ihn angezeigt?
Jedoch über eine offizielle Anklage hätte der Graf verständigt werden müssen. Johann war gerade mal seit 14 Tagen mündig. Erst mit dem 24. Geburtstag war ein junger Mann unabhängig vom Vater oder anderen Vormunden. Außerdem hätte Goltzow von einer Verhaftung gewusst. Aber was wäre, wenn Johann sich für jemand anders ausgegeben hatte?
Mein Gott, was für ein Gedanke! schoss es Franz durch den Kopf.
„Offensichtlich hat Ihr Sohn seine Freunde von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugen können“, sagte er in freundlichem Ton und deutete mit dem Kopf auf die schwarzberockte Traube, die vom Hausherrn unter lautstarker Nötigung mit Branntwein versorgt wurde. Frau Tanner seufzte. Vermutlich breiteten sich vor ihrem geistigen Auge die Folgen sinnlosen Trinkens aus. Gottlieb Tanners Nase glühte bereits.
„Kommen Sie, ich mache Sie miteinander bekannt“, bot sie an, im nächsten Moment schob sie ihren Mann resolut zur Seite.
Franz warf Ernst einen raschen Blick zu und machte ihm mit den Augen ein Zeichen. Ernst verstand und gesellte sich hinzu. Frau Tanner kannte beileibe nicht alle Namen der Burschen, die sie umringten. Einige stellten sich selbst vor. Auch Hans-Georg Köster nannte seinen Namen, als er bemerkte, dass Frieders Mutter bei seinem Anblick ins Stocken geriet. Franz war sich sicher, der junge Mann war im Augenblick des Erkennens
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