Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
einer unnatürlich roten Nase stützte sie ungeschickt. Er tat es vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben.
„Warum, Herr? Warum er? Er war ein so guter Junge“, schluchzte sie auf. Weinkrämpfe verschlossen ihr den Mund, ihre Schultern zuckten. Die Angehörigen standen hilflos dabei.
Der Pastor warf Frau Tanner einen missbilligenden Blick zu. Demnach teilte er ihre Zweifel an den Wegen des Herrn nicht.
Franz hatte einen zähen Kloß im Hals, er schluckte unablässig und fragte sich pausenlos, was er an Frieders Grab erwartet habe. Noch vor Stundenfrist hatte er sich tatsächlich eingebildet, ihm komme die Rolle eines neutralen Beobachters zu, die ihm eine gewisse Distanz verschaffe. Aber seine Abgeklärtheit war ihm bereits beim Anblick der kleinen Johanna abhanden gekommen. Ein ums andere Mal drängten sich strahlend graue Augen in seine Gedanken, die sich ob einer schrecklichen Nachricht weiten sollten, und sich dann mit Tränen füllten.
Gott, verdammt, du elender Mistkerl! Warum hast du mir nicht dein Geheimnis anvertraut? zuckte es Franz durchs Hirn.
Plötzlich aufwallende Wut half ihm über seine Bestürzung hinweg, auf geweihter Erde und am Grab eines Toten, und sei es auch nur in Gedanken, gotteslästerlich zu fluchen.
Der Regen wurde stärker, Tropfen bahnten sich ihren Weg durch Franz’ Locken, rannen ihm Tränen gleich über das Gesicht.
Zu einer anständigen Beerdigung gehöre auch ein anständiger Leichenschmaus, hatte Gottlieb Tanner gesagt und sämtliche Trauergäste zu einem solchen Schmaus eingeladen.
Beim Anblick der Kellerwohnung in einem Haus unweit der Grube revidierte Franz seine Vorstellung von Armut. Hier roch es muffig und angesichts des schwarzen Schimmels an den Wänden in der „guten Stube“, in der die Gäste wegen des strömenden Regens willkommen geheißen werden mussten, machte er sich keine Illusionen, wie die Kammer aussehen mochte, die ein fadenscheiniger Vorhang verbarg. Einen schmalen Flur, der zugleich als Küche diente, hatten die Gäste bereits passiert, um in das einzige Zimmer zu gelangen. Es war ein dunkles Loch mit niedriger Decke und einem winzigen Fenster. Über einem abgewetzten Sofa hatte die Hausfrau ein Stück Leinen aufgespannt. „Eigener Herd ist Goldes Wert“ hatten kunstfertige Finger mit rotem Garn hineingestickt und den Spruch mit allen Buchstaben des deutschen Alphabets in der großen als auch in der kleinen Schreibweise umrahmt, wie um dem Betrachter mitzuteilen, jeden einzelnen zu beherrschen. Franz starrte fasziniert auf das Kunstwerk aus winzigen Kreuzstichen.
„Das hat mir Frieder gemacht. Sein Hochzeitsgeschenk für mich.“ Frau Tanners Augen lächelten trotz des Kummers, der ihre Züge beherrschte. Sie schenkte dampfenden schwarzen Kaffee aus. Der Duft des echten Bohnenkaffees milderte etwas den Mief, den das Gemäuer und die feuchten Kleider der vielen Menschen ausdünsteten.
„Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Euer Gnaden sich die Mühe gemacht haben, an Frieders Grab zu kommen.“ Jetzt lächelte auch ihr Mund und als ob sie sich dafür entschuldigen müsse, fügte sie noch an: „Der Allmächtige hat mir Zeit gegeben, mich auf den Abschied vorzubereiten. Ich wusste, dass es so enden würde.“
„Es tut mir sehr leid, Frau Tanner, für Frieder und natürlich auch für Sie und Ihre Familie. Ich konnte Ihren Sohn leider nur ein einziges Mal sprechen“, entgegnete Franz. Er wollte sie so schnell wie möglich wissen lassen, wer er wirklich sei. Um erst gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hatte er morgens beschlossen, in Uniform zu erscheinen. Er verbeugte sich höflich, als er sich vorstellte. „Mein Name ist Franz von Klotz, gnädige Frau. Ich bin der Bruder von Johann, einem Kommilitonen Ihres Sohnes.“
„Sehr angenehm, Euer Gnaden, Amelie Tanner“, sagte sie unter einem freundlichen Nicken. „Gnädige Frau hat mich allerdings mein Lebtag noch niemand genannt.“
Ihr Einwurf verunsicherte Franz. Er konnte die Anrede unmöglich zurücknehmen. Ein Lächeln sollte ihm darüber hinweghelfen, nicht recht zu wissen, wie er anknüpfen sollte.
„Wurden Euer Gnaden in Vertretung geschickt?“
Ihre gewiss freundlich gemeinte Frage machte ihn beklommen. Was sollte er darauf antworten?
Frau Tanner zog ihre eigenen Schlüsse: „Der gnädige Herr brauchen nicht nach Entschuldigungen zu suchen. Wir sind Herrn Johann von Klotz zu tiefstem Dank verpflichtet, auch weil Ihr Herr Bruder sich noch zu Frieders
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