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Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)

Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)

Titel: Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Herbst
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Herr bekam Angst, die Trophäe, die er zu erjagen gedachte, könne bei diesem Kampfgetümmel Schaden nehmen. Die Kräfte schienen ausgeglichen, keiner der beiden Hirsche konnte entscheidend Boden gewinnen. Der Morgen wurde immer heller und die Sonne vertrieb die diesige Luft der Dämmerung. Der Kampf dauerte schon eine Weile und den Hirschen standen Schaumblasen an den Äsern. Die angespannten Muskeln zuckten in den Flanken.
    Plötzlich wollte einer der Hirsche wegspringen. Er drehte seinem Nebenbuhler unbedacht die Flanke zu. Doch der Sprung geriet zu kurz. Der Gegenspieler nutzte die Gelegenheit und bohrte ihm das Geweih unter das Blatt.“
    Bedauerndes Gemurmel erhob sich. Es verstummte aber sofort, als Hannes weitererzählte.
    „Der verletzte Hirsch trat ein paar Schritte zurück, dabei sein dem Gegner zugewandtes Geweih als Deckung nutzend. Ich erkannte, dass ihm Blut aus dem Äser trat und sich mit Schaum vermischte. Er konnte nicht mehr kämpfen, drehte sich um und verschwand im angrenzenden Wald. Der Sieger verfolgte ihn noch ein Stück. Dann hob er den Kopf und verkündete mit einem lang gezogenen Trompeten seinen Sieg. In diesem Augenblick schoss der Herr.“ Hannes bat einen umhergehenden Burschen um einen guten Schluck für seine vom langen, ungewohnten Sprechen ausgedörrte Kehle. Er war sich durchaus bewusst, die Nerven seiner Zuhörer zu strapazieren.
    „Hat dein Herr getroffen?“
    „Mach schon, erzähl weiter“, feuerten die Zuhörer ihn an.
    „Das, was jetzt folgt, ist nicht gelogen und wenn der gnädige Herr, Gott sei seiner Seele gnädig, hier unter uns säße, wäre er mein Zeuge für die unwiderrufliche Wahrheit.“ Es drohte ein Tumult auszubrechen, aber Hannes war einsichtig und fuhr fort:
    „Der Herr hatte also geschossen und wir starrten gebannt hinter dem Pulverdampf auf die Lichtung. Da! Der Hirsch stand noch genauso da, wie ich ihn erinnerte, mit in die Höhe gerecktem Kopf. Er regte sich nicht einmal. Die Tiere waren freilich alle verschwunden. Uns war das nicht geheuer. Der Herr beschloss, noch einmal zu schießen. Mit zitternden Fingern lud ich die Flinte neu, reichte sie meinem Herrn. Der war mindestens so aufgeregt wie ich und zielte ein bisschen zu lang. Der Schuss zerriss die Stille des Waldes um ein weiteres Mal, aber das Ergebnis blieb dasselbe. Der Hirsch rührte sich nicht von der Stelle. Mir sträubte sich das Fell. Der Herr war kreidebleich. Schnell sahen wir uns um und machten uns darauf gefasst, Teufel und Hexen zu erblicken. Zu unserer Erleichterung schimpfte nur ein Eichelhäher in unserer Nähe. Ich fasste mir ein Herz und kletterte aus unserem Versteck, der Herr wollte mich noch aufhalten, vielleicht hatte er Angst um mich, vielleicht hatte er aber auch nur Angst, allein zu bleiben. Wie dem auch war. Ich näherte mich vorsichtig dem Hirsch, immer die Deckung des Waldes ausnutzend. Als ich auf zwanzig Schritt herangekommen war, sah ich, dass Blut aus der Kammer des Hirsches floss und seine Zunge zerbissen aus dem Äser hing. Der Hirsch war tot mit erhobenem Kopf und aufrecht stehend. Ich winkte dem Herrn, der auch nachfolgte. Mit einem Ast, den ich im Wald gefunden hatte, berührte ich das Stück und warf es damit um. Der Hirsch fiel, so wahr ich hier sitze, mit zurückgeworfenem Kopf und ausgestreckten Beinen. Der Herr, der nun auch merkte, es bestehe keine Gefahr mehr, betastete den Körper und wiederholte ein um das andere Mal: ‚Er ist versteinert, er ist versteinert.‘ In dieser Starre verweilte der Hirsch noch eine volle Stunde, bis ihm der Kopf erlösend zu Boden fiel und das war meine Geschichte.“
    Begeistert wurden sofort Mutmaßungen angestellt, was zu der Versteinerung geführt haben mochte, jedoch keine der geäußerten Theorien fand breite Zustimmung. So behielt die Geschichte etwas Mystisches. Dem alten Hannes wurde anerkennend auf die Schulter geklopft und das Gelage wäre noch bis in die frühen Morgenstunden weitergegangen, wenn nicht ein kräftiger Regenguss die Gesellschaft aufgelöst hätte.
     
    Nachdem Borowsky seine Gäste mit einer komfortablen geschlossenen Kutsche auf den Heimweg geschickt hatte, warf er sich zufrieden, den Tag rekapitulierend, in einen Sessel.
    Aus der dunklen Halle erschien die bleiche Gestalt eines Dienstboten. „Heute Nachmittag ist die Depesche angekommen, auf die Euer Gnaden gewartet haben“, flüsterte er.
    Borowsky gab dem Mann mit einem Wink zu verstehen, seine Dienste nicht länger zu benötigen. Er machte

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