Weiße Nana / Mein Leben für Afrika
anpacken will.«
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Immer wieder sah ich die Bilder vor mir. Vielleicht war es die Erinnerung an meine eigene, nicht ganz so behütete Kindheit. Vielleicht war es aber auch das, was meine Grundschullehrerin meinen »ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit« nannte. Als es Morgen wurde, wusste ich, dass ich nicht wie all die anderen tatenlos zusehen konnte, wie man diese Kinder zugrunde richtete. Mir war klar, dass dies ein gänzlich anderes Projekt werden würde als alles, was ich bisher getan hatte. Einen Brunnen zu bauen in einer Gemeinde, die ihn sich wünscht, eine Schule und ein Krankenhaus – das waren klare abgeschlossene Projekte, deren Nutzen offensichtlich war und gegen die sich keiner wehrte. Die Kosten waren überschaubar, der Benefit lag auf der Hand. Hier am Voltasee würde ich es mit Kriminellen zu tun haben, die kein Interesse daran hatten, dass ich mich in ihr Leben einmischte. Und doch. Mein Glaube an die Menschheit war nach wie vor ungebrochen. Jemand, der kleine Kinder für seine Arbeit versklavt, der tut dies nicht aus Freude an der Grausamkeit. Er fühlt eine wirtschaftliche Notwendigkeit, dies zu tun, er weiß sich keinen anderen Rat. Dasselbe mit den Eltern. Welche Mutter verkauft schon freiwillig ihr Kind? Würde sie es nicht lieber bei sich behalten, sähe sie auch nur den kleinsten Schimmer eines anderen Auswegs?
»Genau hier müssen wir ansetzen«, sagte ich beim Frühstück zu Emmanuel.
Er sah mich an. In seinen Augen war ein Strahlen.
»Also haben wir ein neues Projekt?«, sagte er.
»Das haben wir.«
Ich rief Joycelyn an.
»Machst du gerade etwas Wichtiges?«, überfiel ich sie.
Und noch ehe sie Luft holen konnte, fügte ich hinzu: »Wenn nicht, wäre es toll, wenn wir uns jetzt gleich treffen könnten.«
Ich tat, was ich immer tue, wenn ich ein neues Projekt beginne. Ich trug so viele Fakten zusammen, wie ich nur bekommen konnte. Dabei war Joycelyn mein erster Ansprechpartner. Sie hatte bereits einiges an Material, Daten und Fakten für ihre Organisation
CDC Community Development Concern,
einer kleinen regierungsunabhängigen Organisation zur Förderung von Gemeinden, zusammengetragen. Dabei fand sie heraus, dass in Afrika und speziell in Ghana Kinderarbeit auch außerhalb der Fischerdörfer eine lange Tradition hat. Im Grunde gibt es nach europäischer Definition Kinderarbeit an jeder Ecke, denn auch in Accra verkaufen Minderjährige am Straßenrand Trinkwasser, Obst, Süßigkeiten und was sonst noch alles. Auch im Kakaogeschäft gibt es Kinderarbeit, aber im Unterschied zu den Fischerkindern am Voltasee findet diese nur zu bestimmten Saisons, nämlich zu den Ernten, statt. Auch dies ist nach unserer Vorstellung nicht richtig. Dennoch sehe ich einen eklatanten Unterschied zwischen dieser »Teilzeit«-Arbeit und jener sklavenähnlichen Haltung von Kindern, deren Ausbeutung das ganze Jahr über währt, und zwar von morgens bis in den späten Abend. Diese Kinder sind an Leib und Seele gefährdet, und viele überleben ihre ersten zehn Jahre nicht. Denen, die überleben, wird die Möglichkeit genommen, eine Schule zu besuchen, was zur Folge hat, dass die gesamte Zukunft dieser kleinen Menschen bereits in den allerfrühesten Jahren ruiniert wird. Von den psychischen Schäden ganz zu schweigen.
Gemeinsam mit Joycelyn und Emmanuel fuhr ich also an den See und sah mir verschiedene Dörfer an. Ich stellte mich den Chiefs als Nana Enimkorkor vor, doch schon bald merkte ich, dass hier ein anderer Wind weht als in der Aschantiregion oder in Brong Ahafo. Erst konnte ich es mir nicht richtig erklären, aber dann verstand ich den Grund dafür. Die Dörfer am Voltasee sind keine gewachsenen Strukturen wie die, die ich bislang kennengelernt hatte. In ihnen lebten Angehörige von bis zu sechs verschiedenen Stämmen, die meist nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Auch gibt es große kulturelle Unterschiede zwischen den einzelnen Stämmen. So gelten die Aschanti als äußerst stolz, sie sind fleißig und treiben gerne Handel. Die Ewe sind ausgesprochen umgängliche Menschen, die sich verschiedenen Umständen recht schnell anpassen können. Die Ga dagegen gelten als jähzornig und aufbrausend. Kein Wunder, also finden Dörfer, die aus solchen unterschiedlichen und im Temperament verschiedenen Stammesanteilen gemischt sind, die jeweils auch noch eine andere Sprache sprechen, schwieriger zu einem Konsens als einheitliche Gemeinden. Offenbar waren
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