Weiße Nebel der Begierde
Grausamkeiten von Seiten ihrer Mutter und schlimmster körperlicher Misshandlung von Seiten ihres Vaters hervorgerufen worden war.
Gleichgültig wie sanft und verständnisvoll Gabriel mit ihr umging, Georgiana konnte es nicht verhindern zu erstarren, sobald er versuchte, sie auch nur anzurühren. Sie bat ihn immer und immer wieder um Verzeihung, und irgendwann fasste sie so viel Vertrauen zu ihm, dass sie das Bett mit ihm teilen konnte. Doch nach Wochen der ehelichen Pflichterfüllung, die jedes Mal mit Tränen endete, gab Gabriel jeden Versuch auf, seiner Frau näher zu kommen.
Aber zu dieser Zeit war Georgiana bereits guter Hoffnung.
Während ihrer Schwangerschaft erklärte Georgiana offen, dass sie Gabriels Sohn unter dem Herzen trug, als ob sie es irgendwie wahr machen könnte, wenn sie es nur oft genug laut aussprach. Er würde Gabriel nach seinem Vater heißen, sagte sie und missachtete damit die düsteren Warnungen der Frauen von der Insel, die ihr klarzumachen versuchten, dass es Unheil bringen würde, wenn man einem noch ungeborenen Kind einen Namen gab.
Selbst nach Julianas Geburt weigerte sich Georgiana zu glauben, dass es eine Tochter war - erst als sie das Kind mit eigenen Augen sah, beugte sie sich der Wirklichkeit. Gabriel hatte beobachtet, wie sie den Säugling an diesem Tag angesehen hatte, nicht mit der ehrfürchtigen Freude einer jungen Mutter, sondern mit derselben Angst, die ihn auf dem Ball in London so sehr in ihren Bann gezogen hatte.
Gabriel versicherte Georgiana ein ums andere Mal, dass sie nichts mehr zu befürchten habe, dass das Leben, das sie vor ihrer Hochzeit geführt habe, der Vergangenheit angehöre. Doch Georgiana zwang Gabriel trotzdem das Versprechen ab, niemals zuzulassen, dass ihre Familie die Gelegenheit bekäme, Juliana ebenso zu quälen, wie sie sie gequält hatten. Sie würden vor nichts Halt machen, behauptete Georgiana, um das zu bekommen, was sie wollten.
Von dem Wunsch beseelt, diese Ängste zu beschwichtigen, gab Gabriel ihr sein Wort, ohne zu ahnen, dass es einmal von größter Bedeutung sein würde, es auch einzuhalten.
Die Zeit verflog wie im Fluge und Georgiana fühlte sich wohl in ihrer neuen Rolle als Mutter. Sie kümmerte sich ganz allein um Juliana, stillte sie selbst, erfüllte der Kleinen jeden Wunsch und ertrug mit Freuden die Launen der Zweijährigen. Gabriel glaubte, dass Georgiana glücklich wäre -zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich und wahrhaftig glücklich - und dass sie die Erinnerungen an ihre elende Kindheit hinter sich gelassen hätte.
Er irrte sich gewaltig.
Er wusste so gut wie nichts über die Geschehnisse, die sich an diesem trüben Wintermorgen vor drei Jahren ereignet hatten. Es war ein Tag wie jeder andere und nichts deutete auf ein Unheil hin.
Der Morgen war frostig, aber die Sonne brach durch die Wolken und tauchte die Insel in strahlendes Licht. Nach dem Frühstück zog Georgiana zuerst sich selbst an, dann ihre sechs Jahre alte Tochter, weil sie sich vorgenommen hatten, einen Spaziergang auf den Klippen der Westküste zu machen - einen Ausflug, den sie schon öfter gemeinsam genossen hatten. Sie fragte Gabriel, ob er sie nicht begleiten wolle, aber er lehnte ab, weil er noch eine Menge Papiere mit dem Verwalter Clyne durcharbeiten musste.
Er sah den beiden nach, winkte ihnen vom Fenster seines Arbeitszimmers, als sie durch die mit Reif bedeckte Wiese gingen und hinter dem
Hügel verschwanden. Der Wind war eisig, und Georgiana hatte Gabriel versprochen, nicht zu lange fortzubleiben.
Dennoch nagte ein ungutes Gefühl an Gabriel.
Wenn er dem doch nur nachgegangen wäre!
Als die beiden einige Stunden später immer noch nicht zurück waren, machte sich Gabriel auf den Weg. Er fand nur seine kleine Tochter, nass und zitternd, auf einer Klippe vor. Sie war plötzlich verstummt und nicht imstande, ihm zu sagen, was mit ihrer Mutter geschehen war.
Einer von Georgianas Schuhen wurde eine Woche später an Land gespült; ihr Leichnam wurde allerdings nie gefunden; es war beinahe, als hätte ihn der hereinrollende Nebel an diesem Morgen eingehüllt und mit sich genommen. Es war nicht wichtig, ob es ein schrecklicher Unfall gewesen war oder ob Georgiana ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Als Gabriel mit dem durchweichten Schuh in den zitternden Händen am Strand stand, spürte er das volle Gewicht der Verantwortung für ihren Tod so sehr, als hätte er selbst sie getötet.
Er hätte wissen müssen, dass so etwas passieren
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