Weiße Stille
geriet nun richtig in Fahrt. »Was habe ich dir getan? Du verwöhnter, missratener Scheißkerl!«
Während der Streit so sehr eskalierte, dass die beiden Männer alles um sich herum vergaßen, richtete Ren sich langsam hinter dem Steuer auf und drehte sich um.
Sie sah Malcolm Wardwell und dessen Sohn Jason.
Malcolm verpasste Jason eine schallende Ohrfeige. Jason drückte eine Hand auf seine Wange und schaute Malcolm mit verletztem, wütendem Blick an. »Ich habe dich um nichts gebeten«, zischte er. »Niemals! Misch dich nicht in mein Leben ein, Dad! Ich will mit deinem Leben auch nichts zu tun haben. Seltsam, dass ich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben soll, ohne etwas unterschrieben zu haben!«
»Ja, du hast mit Sicherheit einen Pakt mit dem Teufel geschlossen …«, sagte Malcolm. Seine Stimme war mit einem Mal traurig und ernst. Er wunderte sich selbst über die Tränen, die ihm über die Wangen liefen.
Er zögerte. Dann ging er auf seinen Sohn zu und schloss ihn in die Arme.
60.
Mike Delaney saß in seinem Büro. Er beugte sich über seinen Stuhl und schloss die Fensterläden hinter sich. Ren klopfte an die Tür.
»Kommen Sie herein und setzen Sie sich«, sagte er.
»Störe ich?«
»Und wie.« Mike lächelte. »Aber ich schenke Ihnen zwei Minuten meiner kostbaren Zeit.«
»Cool«, sagte Ren. »Gestern Abend habe ich etwas Seltsames erlebt, und ich wollte gerne Ihre Meinung dazu hören. Ich habe meinen Jeep auf dem Parkplatz neben der Kirche geparkt, an der French Street, gegenüber vom Gasthof. Dabei wurde ich zufällig Zeugin eines Gesprächs zwischen den Wardwells … zwischen Malcolm und seinem Sohn.«
»Jason.«
»Ja. Sie haben sich furchtbar gestritten. Wardwell war halb wahnsinnig vor Wut. Seltsam … beim Verhör hatte ich den Eindruck, dieser Mann wäre zart besaitet, doch gestern Abend hatte ich Angst, er würde durchdrehen. Dann, plötzlich, weinte er wie ein Kind. Er brach buchstäblich zusammen und nahm Jason in die Arme. Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Nein«, sagte Mike. »Ging es bei dem Streit darum, dass Jason einen Job bei Mountain Sports angenommen hat?«
»Ich weiß, dass zwischen Wardwells Geschäft und dem Mountain Sports eine erbitterte Konkurrenz besteht, aber der Streit war viel zu ernst, als dass es um so etwas Banales gegangen sein kann. Es steckte mehr dahinter.«
»Es ging wohl ziemlich zur Sache?«
Ren nickte.
»Und was kann ich jetzt für Sie tun?«, fragte Mike.
»Wem gehört Mountain Sports?«
»Einem norwegischen Ehepaar. Warten Sie, ich schaue mal nach …« Mike rollte auf seinem Stuhl zum Computer und tippte auf der Tastatur. Kurz darauf drehte er den Monitor zu Ren. »Hier. Die Besitzer sind Maria und Sjurd Nordberg. Sie haben das Geschäft seit neun Monaten.«
»Haben wir bei den Ermittlungen im Winter mit ihnen gesprochen?«
Mike nickte. »Ich war bei ihnen. Aber sie konnten mir nicht viel sagen. Sie waren erst kurz vorher in die Stadt gezogen und hatten das Geschäft gerade erst eröffnet.«
»Ich könnte heute mal vorbeigehen …«, murmelte Ren.
»Um was zu tun?«
»Das wird sich dann schon finden.« Ren lächelte. »Waren das jetzt zwei Minuten?«
»Ja. Raus mit Ihnen.«
Auf dem Weg zu Mountain Sports fuhr Ren bei Wardwell vorbei. Über das gesamte Schaufenster war ein rot-gelbes Transparent gespannt, auf dem stand: 25— jähriges Geschäftsjubiläum – 25 % Rabatt. Ren blieb vor dem Fenster stehen. Eine Mutter drängelte sich mit ihren drei blonden Töchtern, die alle gleich frisiert waren, an ihr vorbei. Offenbar vertraute sie darauf, dass hoch toupiertes Haar, Selbstbräunungscreme und Miniröcke auch bei Vierzigjährigen noch gut aussahen. Ren blickte ihnen hinterher und stieg dann die Treppe zum Geschäft hinunter.
Die voll bepackten Ständer mit den Sonderangeboten waren an die Wand geschoben worden, sodass in der Mitte Platz für Kartons war. Malcolm Wardwell kniete mit einem Kartonmesser auf dem Boden und schnitt das braune Paketband durch. Er hob kurz den Blick zu Ren und senkte dann wieder den Kopf.
»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte Ren. »Das Verhör letztens ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen.«
Wardwell beugte sich über den geöffneten Karton und nahm einen Stapel eingeschweißter Jacken heraus. Dann hielt er inne und schaute Ren an.
»Das war wirklich nicht sehr professionell«, fuhr Ren fort und zeigte auf die Kartons. »Tut mir leid, dass ich störe.«
»Morgens habe ich nie viel Hilfe.«
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