Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
«
» Cassel? « , sagt Dekan Wharton. Er klingt nicht gerade glücklich. » Entschuldigen Sie den späten Anruf, aber ein Vorstand von der Westküste hat gerade erst angerufen. Sie sind herzlich eingeladen, nach Wallingford zurückzukommen. Wir haben den Arztbericht erhalten und der gesamte Vorstand hat sich dafür entschieden. Wir möchten, dass Sie zunächst auf Bewährung als Tagesschüler kommen, aber wenn sich auf Dauer keine weiteren Auffälligkeiten ergeben, ziehen wir es in Erwägung, Sie im Abschlussjahr wieder im Internat zuzulassen. «
Ich unterdrücke das ironische Lachen, das in mir hochblubbert. Mein Trick hat funktioniert. Ich darf wieder zur Schule gehen. Doch ich werde nie wieder der Mensch sein, für den ich mich gehalten habe. » Vielen Dank, Sir « , bringe ich raus.
» Wir erwarten Sie dann morgen früh, Mr Sharpe. Da Sie bereits bis zum Ende des Schuljahrs bezahlt haben, dürfen Sie Frühstück und Abendessen selbstverständlich in der Cafeteria einnehmen. «
» Montagmorgen? « , krächze ich.
» Ja, morgen früh. Es sei denn, Sie haben andere Pläne « , sagt er trocken.
» Nein « , sage ich. » Selbstverständlich nicht. Bis morgen, Mr Wharton. Vielen Dank, Mr Wharton. «
Einer von Zacharovs Männern fährt mich nach Hause. Er heißt Stanley, kommt aus Iowa und kann kaum Russisch. Sprachen fallen ihm schwer, sagt er.
Das erzählt er mir alles, als er mich vor unserem Haus ablädt. Obwohl ich in der Limousine hinten saß und die dunkle Trennscheibe hochgefahren war, hat er anscheinend mehr gesehen, als ich dachte. Wahrscheinlich hat er mitbekommen, wie ich mein Hemd aufgeknöpft habe, um meine violett angelaufenen Prellungen abzutasten und meine Rippen auf Brüche zu untersuchen. Das schließe ich nicht nur aus seinen freundlichen Bemerkungen– er hat mir auch noch eine ganze Packung Aspirin geschenkt.
SECHZEHNTES KAPITEL
ALS ICH NACH HAUSE KOMME , ist mein Großvater nicht da, aber er hat mir eine Nachricht auf die Rückseite einer Quittung gekritzelt, die er miteinem i ♥ chihuahuas -Magneten an den Kühlschrank geheftet hat.
Bin ein paar Tage in Carney.
Melde Dich, wenn Du wieder da bist.
Ich glotze auf die Nachricht und versuche, ihren wahren Sinn zu entschlüsseln, aber eigentlich denke ich die ganze Zeit nur, dass ich mir morgen früh sein Auto nicht ausleihen kann. Nachdem ich in mein Zimmer getaumelt bin, stelle ich den Handywecker, schiebe einen Stuhl unter die Tür und werfe noch eine Handvoll Aspirin ein. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, die Schuhe auszuziehen oder unter die Bettdecke zu kriechen. Ich schmiege mein Gesicht an das Kissen und sinke in tiefen Schlaf, wie ein Toter, der endlich in sein Grab zurückgekehrt ist.
Als der schrille Weckton mich aus dem Tiefschlaf reißt, weiß ich einen Augenblick lang nicht, wo ich bin. Ich lasse den Blick durch das Zimmer schweifen, in dem ich als kleiner Junge geschlafen habe, und es kommt mir vor, als würde es einem anderen gehören.
Dann beuge ich mich vor, schalte mein Handy aus und blinzele mehrmals.
Seit Tagen war ich nicht mehr so klar im Kopf.
Auch der Schmerz hat deutlich nachgelassen– vielleicht, weil ich endlich mal schlafen durfte–, aber dafür dämmert mir langsam, was wirklich passiert ist und was noch auf dem Plan steht. Viel Zeit habe ich nicht, um mir etwas auszudenken– ganze drei Tage.
In dieser Zeit muss ich meinen Brüdern unbedingt aus dem Weg gehen. Dafür eignet sich Wallingford hervorragend. Sie wissen nicht, dass ich wieder zugelassen bin, und selbst wenn sie es herausfinden, kann keiner behaupten, ich würde mich verstecken, nur weil ich zur Schule gehe. Ich kann zumindest so tun, als wäre ich immer noch ihr Killerroboter, der darauf wartet, dass sie ihn aktivieren.
Ich krame mein kratziges Hemd und die Uniformhose aus dem Kleiderschrank. Das Jackett und die Schuhe hatte ich gar nicht erst mitgenommen, als ich neulich meine Sachen gepackt habe, aber das ist mein kleinstes Problem. Ich weiß nicht, wie ich zur Schule kommen soll.
Nachdem ich die Schuhe angezogen habe, rufe ich Saman.
» Weißt du eigentlich, wie spät es ist? « , fragt er verpennt.
» Du musst mich abholen « , erkläre ich ihm.
» Mann, wo bist du denn überhaupt? «
Ich gebe ihm meine Adresse und er legt auf. Hoffentlich dreht er sich nicht einfach auf die andere Seite und schläft weiter.
Beim Zähneputzen sehe ich im Badezimmerspiegel, dass meine Wange unter dem Dreitageflaum lila geschwollen ist. Mein
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