Weißer Mond von Barbados
es so sein wird? Angenommen, Richard tut überhaupt nichts. Du hast doch gehört, er will nicht hineinverwickelt werden. Er wird jetzt erst mal vor- und rückwärts darüber brüten.«
»Ich kenne das besser als du«, sagte Sverdlov. »Er wird es genauso machen, wie er gesagt hat. Er hofft, sich selbst damit einen dicken Pluspunkt zu verschaffen. Er wird zum Botschafter gehen und wird sagen: Sir, ich kenne einen hohen und wichtigen russischen Offizier, der zu uns herüberkommen will. Dann wird das alles sein Verdienst sein und er darüber glücklich. Ich persönlich werde nichts mit ihm zu tun haben, worüber ich sehr froh bin. Ich mag ihn nicht.«
Judith blickte auf ihre Uhr.
»Wir verschwinden lieber von hier, ehe Nancy von ihrem Rendezvous zurückkommt. Feodor, mußt du zur Botschaft zurück? Der Gedanke macht mich ganz verrückt. Wenn sie nun einen Verdacht haben?«
»Haben sie nicht«, sagte er. »Irgendwie ist es direkt komisch. Derjenige, der versucht, mich in einer Falle zu fangen, muß jetzt erst mal annehmen, ich habe dich gefangen. Das muß er abwarten, bevor er sein großes Geschütz abschießt, denn dann bist du sein Spionchen. Das sind alles so alte Tricks, weißt du, aber sie funktionieren immer. Wenn du in einer Hand etwas hast, was ein Feind haben will, dann zeige ihm, daß du in der anderen Hand auch etwas hast, was er möchte. Dann weiß er nicht, was er zuerst nehmen soll.«
»Wieder mal ein russisches Sprichwort?« fragte Judith ungeduldig.
Er sah nicht mehr ganz so abgespannt aus wie am Abend zuvor. Aber die Ereignisse hatten ihre Spuren zurückgelassen, er hatte tiefe Ringe unter den Augen, und an seinem Mund zuckte immerfort ein kleiner Nerv. Auch sie hatte den Rest der vergangenen Nacht kaum geschlafen, war nur manchmal kurz eingenickt, und den ganzen Tag über hatte sie auf ihn gewartet, nervös, aufgeregt, erfüllt von Angst, daß er niemals kommen würde und sie niemals erfahren würde, was aus ihm geworden war.
»Wir könnten in ein Kino gehen«, sagte er, »da kann ich im Dunkeln deine Hand halten.«
Plötzlich schloß er sie heftig in die Arme, so daß sie die Balance verlor, und dann küßte er sie.
»Du liebst diesen Engländer nicht mehr, nicht wahr?«
»Warum denkst du das?«
»Weil du mich so küsst, wie du mich eben geküßt hast«, sagte er. »Komm, gehen wir ins Kino und setzen uns in die letzte Reihe.«
Judith erinnerte sich danach nicht, was für einen Film sie gesehen hatte. Er bestand darauf, den Arm um sie zu legen, sie versuchte sich frei zu machen, aber er war stärker. Es fiel nicht weiter auf, rundherum taten alle dasselbe. Aber plötzlich lag sein Kopf auf ihrer Schulter – er war eingeschlafen.
Sie saß in der Dunkelheit und wagte nicht, sich zu rühren, auch wenn sie bald steif und krumm war von seinem Gewicht. Die Situation war so unvorstellbar, so dramatisch, daß alles, was da vorn auf der Leinwand vorging, lächerlich dagegen erschien.
Sie wirkten wie ein Liebespaar. Keiner, der sie gesehen hätte, wäre auf die Idee gekommen, daß der Mann, der an ihrer Schulter schlief, nur eine kurze Rast einlegte auf seiner Flucht vor Haft und sicherem Tod.
Ein Liebespaar – waren sie das? Eine Ferienbekanntschaft – weiter nichts. Es begann unter der Sonne von Barbados, Spazierengehen, schwimmen, lachen, der Strand, das Meer, die Palmen, ein paar hübsche Abende, der Tanz mit ihm, die ersten Küsse – all das war ganz normal, das kam jeden Tag vor. Wie konnte das daraus werden, was es jetzt war? Eine tödliche Gefahr, dunkler, drohender Schatten, die große Angst.
Die Angst um ihn.
Sie war auf die Insel gekommen, um ihren Kummer zu vergessen. Was für einen Kummer eigentlich? Diese lächerlich kleine Liebesaffäre, die überhaupt keine Rolle mehr spielte? Warum war ihr das bloß so wichtig vorgekommen? Ein langweiliges Durchschnittsleben ohne besondere Höhepunkte. – Und jetzt?
Der Mann, der an ihrer Schulter schlief, hatte alles verändert. Nie mehr würde ihr Leben das sein, was es gewesen war.
Ich liebe ihn doch nicht, dachte sie und starrte blicklos auf die Leinwand da vorn. Ich liebe ihn keineswegs, es wäre albern, sich jetzt so etwas einzureden. Ich habe ja nicht einmal Richard Paterson geliebt, wie sich jetzt gezeigt hat. – Ich kann gar nicht lieben.
Wenn es aber keine Liebe war, was war es dann? Warum diese Angst um ihn, warum zitterte sie bei dem Gedanken, daß ihm etwas passieren könne?
Hier neben ihr, in diesem Moment, war er
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