Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
dem niedrigen Doppelbett aus Kiefernholz, der Kleiderschrank, die Wäschetruhe und der Flickenteppich.
    Als ich durch den Flur ging, sah ich sie am Couchtisch sitzen und meine Akte studieren, die Köpfe zusammengesteckt. »Sie hat eine echt harte Zeit hinter sich«, erzählte Joan Peeler meiner neuen Pflegemutter gerade. »Bei einer Pflegefamilie ist sie angeschossen worden …«
    Claire Richards schüttelte den Kopf, ungläubig, dass irgendjemand so grausam sein und auf ein Kind schießen konnte.
    Das Badezimmer würde mein Lieblingszimmer werden, das konnte ich jetzt schon sagen. Aqua und rosé gekachelt, in Originalfliesen aus den zwanziger Jahren, über der Badewanne war eine Duschabtrennung aus Milchglas: ein Schwan, der zwischen Rohrkolben schwamm. Der Schwan kam mir sehr bekannt vor. Hatten wir schon mal irgendwo gewohnt, wo es solches Milchglas mit eingeätztem Schwanenmotiv gegeben hatte? Auf dem Badetablett, das quer über der Wanne hing, drängten sich verschiedene Flaschen, Seifen und Kerzen. Ich öffnete Behälter, roch daran und rieb mir Proben auf die Arme. Glücklicherweise verschwanden die Narben allmählich, Claire Richards würde sich die leuchtendroten Striemen nicht ansehen müssen; sie schien mir eher der sensible Typ zu sein.
    Sie unterhielten sich immer noch über meinen Fall, als ich in das vordere Schlafzimmer ging. »Sie ist sehr intelligent, wie ich schon gesagt habe, aber sie hat in der Schule ziemlich viel verpasst. Das ständige Umziehen, Sie verstehen schon …«
    »Vielleicht etwas Nachhilfeunterricht«, meinte Claire Richards.
    Mein Zimmer. Betten aus weichem Kiefernholz, gleich zwei Stück, falls Übernachtungsgäste kamen. Dünne, altmodische Patchwork-Überdecken, echte handgenähte Quilts, die mit Lochspitze eingefasst waren. Halbvorhänge aus Baumwollkattun, noch mehr Lochspitze. Ein Kiefernpult, ein Bücherregal. Eine Radierung, Dürers Kaninchen, in einem hübschen Kiefernholzrahmen. Es sah verängstigt aus, jedes einzelne Haar war deutlich zu erkennen. Es wartete ab, was als Nächstes passierte. Ich setzte mich auf das Bett. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich diesen Raum füllen sollte, ihn bewohnen, ihn mit meiner Persönlichkeit prägen sollte.
    Joan und ich verabschiedeten uns unter Tränen und umarmten uns.
    »Tja«, sagte Claire Richards fröhlich, nachdem die Sozialarbeiterin gegangen war. Ich saß neben ihr auf der Sitzgarnitur. Sie umklammerte die Knie mit den Händen und lächelte. »Da bist du nun.« Ihre Zähne hatten das bläuliche, halb durchsichtige Weiß von entrahmter Milch. Ich hätte ihr gern die Befangenheit genommen, sie war nervöser als ich. »Hast du dein Zimmer schon gesehen? Ich habe es noch nicht dekoriert, damit du deine eigenen Sachen aufstellen kannst. Es ganz in deinem Geschmack einrichten kannst.«
    Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich nicht dem entsprach, was sie sich vorgestellt hatte. Ich war anders, sie würde mich vielleicht nicht wollen. »Das Bild von Dürer gefällt mir.«
    Sie lachte, ein kurzes Auflachen, und klatschte in die Hände. »Oh, ich glaube, wir werden uns gut verstehen! Es tut mir bloß Leid, dass Ron nicht hier sein konnte. Mein Mann. Er ist gerade in Nova Scotia auf einem Dreh. Er wird nicht vor nächstem Mittwoch zurück sein. Aber was soll man machen! Möchtest du vielleicht Tee? Oder eine Cola? Ich habe Cola gekauft, ich wusste ja nicht, was du gern trinkst. Wir haben aber auch Saft, oder ich könnte dir einen Smoothie mixen –«
    »Tee ist prima«, sagte ich.
    Noch nie hatte ich so viel Zeit mit jemandem verbracht wie in der folgenden Woche mit Claire Richards. Es war deutlich, dass sie nicht viel mit Kindern zu tun gehabt hatte. Sie nahm mich mit zur Reinigung, zur Bank, als hätte sie Angst, mich auch nur für einen Moment allein zu lassen, als sei ich fünf und nicht fünfzehn.
    Eine Woche lang aßen wir aus Pappschachteln und Töpfchen mit fremdsprachigen Etiketten vom Feinkostladen Chalet Gourmet. Weiche, zerlaufende Käseecken, knusprige Baguettes, schrumpelige griechische Oliven. Dunkelroten Prosciutto und Honigmelone, nach Rosen duftende Baklava-Diamanten. Sie aß nicht viel, drängte mich jedoch, das Roastbeef oder die zuckersüßen Grapefruits aufzuessen. Nach drei Monaten bei Cruella brauchte man mich nicht zweimal aufzufordern.
    Wir saßen bei unseren Picknicks im Wohnzimmer, und ich erzählte ihr Geschichten über meine Mutter, über meine bisherigen Pflegestellen. Dabei verschwieg ich nach

Weitere Kostenlose Bücher