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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Nachmittags, als wir uns auf der Sitzgarnitur rekelten, ihr Kopf lag auf der einen Armlehne, meiner auf der anderen. Im Radio sang Judy Garland »My funny Valentine«.
    »Heute«, sagte ich.
    »Nein.« Sie lachte und warf ihre Serviette nach mir. »Davor meine ich.«
    Ich versuchte mich zu erinnern, doch es war, als suchte ich im Sand nach vergrabenen Münzen. Immer wieder drehte ich Gegenstände herum, schnitt mich an rostigen Blechbüchsen und versteckten Bierflaschen, doch schließlich fand ich eine alte Münze und polierte sie sauber. Ich konnte das Datum lesen, ihr Herkunftsland.
    »Es war damals, als wir noch in Amsterdam lebten. In einem hohen, schmalen Haus direkt am Kanal. Es gab eine steile Wendeltreppe, und ich hatte immer Angst hinzufallen.« Dunkelgrünes Kanalwasser und Reistafeln. Wasserratten, so groß wie Opossums. Der süßliche Haschischgeruch der Cafés. Meine Mutter ständig bekifft.
    »Ich erinnere mich, dass es ein sonniger Tag war und wir Sandwiches mit Hamburgern und Zwiebeln aßen, in einem Stehcafé an der Straßenecke, und meine Mutter sang dieses Cowboylied: ›Whoopee ti yi yo, git along little dogies‹.« Es war die einzige Erinnerung, die ich an Amsterdam in der Sonne hatte.
    Claire lachte, ein Klang wie Glocken, zog die Knie bis zum Kinn hoch und umschlang sie mit den Armen, dabei schaute sie mich mit einem Blick an, den ich am liebsten in einer Flasche verkorkt und wie einen guten Wein aufgehoben hätte.
    »Wir haben in der Sonne gesessen und auf den Kanal geblickt, und sie sagte: ›Guck mal, Astrid, schau dir das an.‹ Und sie hat den Leuten zugewinkt, die auf einem verglasten Touristenboot vorbeifuhren. Und alle Passagiere haben zurückgewinkt. Verstehst du: Sie dachten, wir wären Holländerinnen, die sie in ihrer Stadt willkommen heißen. Das war mein schönster Tag.« Die Sonne und die Silbermöwen und all diese winkenden Leute, die dachten, dass wir dort zu Hause waren, dass wir dort hingehörten.
    Am anderen Ende der Couch seufzte Claire, streckte ihre Beine wieder aus und lächelte wehmütig. Sie konnte nicht verstehen, wer ich damals gewesen war: ein dünnes, einsames Kind, das kurze Zeit von dem trügerischen Gedanken gewärmt wurde, irgendwo hinzugehören. Sie sah nur den kindlichen Spaß.
    »Du bist wirklich überall gewesen, stimmt’s?«
    Das stimmte, doch es hatte mir nicht besonders gut getan.
    Am Tag, als Ron aus Nova Scotia zurückerwartet wurde, warf Claire die ganzen Imbissverpackungen weg, machte die Küche sauber und füllte drei Maschinen mit Wäsche. Kochgerüche zogen durchs ganze Haus, und Emmylou Harris sang irgendwas über Banditen in Mexiko. Claire zerpflückte ein ofenwarmes Hühnchen, dabei trug sie Gummihandschuhe, eine rot-weiß karierte Schürze und Lippenstift. »Ich koche Paella, was hältst du davon?«
    Es beunruhigte mich. Mir gefiel es, wie es war; wir hatten uns an eine bestimmte Routine gewöhnt, und jetzt wurde sie von dem Familienteil über den Haufen geworfen, den ich noch gar nicht kannte, dem Teil, der alles für mich verändern konnte. Ich ärgerte mich schon über ihren Ehemann, obwohl ich ihn noch nicht einmal kennen gelernt hatte. Doch ich saugte im Wohnzimmer Staub, half ihr, das Bett mit frischer Wäsche zu beziehen, auf die herabfallende rote und weiße Rosen gedruckt waren. »Rot und weiß sind die Farben der Ehe«, erklärte Claire mir.
    Sie öffnete die Flügeltüren zum Garten, der in der Aprilsonne in voller Blüte stand. Ihre Hände verweilten auf der Steppdecke, strichen den weißen Stoff glatt. Mir war klar, dass sie jetzt am liebsten mit ihm in diesem Bett liegen und mit ihm schlafen wollte. Ich hoffte insgeheim, er würde sein Flugzeug verpassen, auf dem Weg zum Flughafen in einen Unfall verwickelt werden. Ihre zitternde Vorfreude ging mir auf die Nerven. Sie erinnerte mich an eine bestimmte Rosenart, die sie in ihrem Garten gepflanzt hatte. Sie hieß Pristine, war weiß mit einem Hauch Rosa auf den äußeren Blättern, und wenn man sie pflückte, fielen die Blätter sofort ab.
    Wieso musste er ausgerechnet jetzt zurückkommen? Es war gerade so schön. Noch nie hatte ich so im Mittelpunkt gestanden. Ich wollte das bestimmt nicht mit irgendeinem Ehemann teilen, mit irgendeinem Ed auf der Couch. Selbst ein Onkel Ray hätte das wundervolle Gleichgewicht gestört.
    Gegen sechs fuhr sein Auto in die Auffahrt, ein kleiner silbriger Alfa Romeo. Er stieg aus, hängte sich eine Reisetasche über die Schulter, lud einen

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