Weisser Oleander
waren; das gehöre zur ewigen Verdammnis dazu. Erst jetzt verstand ich, was er damit gemeint hatte.
Sie kaufte mir noch ein Stück Kuchen, und ich fertigte eine Zeichnung von ihr auf der Rückseite eines ihrer Blätter an; ich zeichnete ihr Haar ein bisschen weniger strähnig, übersah den Pickel auf ihrem Kinn, gab ihren grauen Augen etwas vorteilhaftere Proportionen. Ich datierte die Zeichnung und schenkte sie ihr. Vor einem Jahr noch hätte ich Panik gehabt, herzlos zu wirken. Inzwischen wollte ich nur noch regelmäßig essen.
Joan Peeler sagte, sie sei noch nie auf ein Kind wie mich gestoßen, sie wolle mich testen lassen. Ich brachte ein paar Tage damit zu, Formulare mit einem dicken schwarzen Bleistift auszufüllen. Das Schaf verhält sich zum Pferd wie der Strauß zu ...? Ich hatte das alles schon mal erlebt, damals, als wir aus Europa wiederkamen und man mich für zurückgeblieben gehalten hatte. Diesmal geriet ich nicht in Versuchung, Bilder auf die Lochkarten zu malen. Joan sagte, die Ergebnisse seien bezeichnend. Man sollte mich auf eine Schule für Hochbegabte schicken, mir neue Herausforderungen bieten; ich sei viel weiter als die zehnte Klasse, ich sollte schon aufs College gehen.
Sie fing an, mich wöchentlich zu besuchen, manchmal zweimal wöchentlich, und sie lud mich zu einer guten Mahlzeit auf Kosten der Stadt ein. Brathähnchen, Schweinekoteletts, halbpfundschwere Hamburger in Restaurants, in denen alle Kellner Filmschauspieler waren. Sie brachten uns Extraportionen Zwiebelringe und Krautsalat.
Während dieser Mahlzeiten erzählte mir Joan Peeler von sich. Eigentlich sei sie ja Drehbuchautorin, Sozialarbeit sei nur ihr Tagesjob. Drehbuchautorin . Ich stellte mir das verächtliche Schnauben meiner Mutter vor. Joan schrieb ein Drehbuch über ihre Erlebnisse als Sozialarbeiterin für das städtische Jugendamt. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich schon alles gesehen habe. Es ist unglaublich.« Ihr Freund, Marsh, war ebenfalls Drehbuchautor; zum Broterwerb arbeitete er bei Kinko’s Copies, einem Fotokopierladen. Sie hatten einen weißen Hund namens Casper. Sie wollte mein Vertrauen gewinnen, damit ich ihr Dinge über mein Leben erzählte, die sie in ihr Drehbuch einbauen konnte. »Feldforschung« nannte sie das. Sie war voll im Trend, arbeitete zwar für die Stadt, wusste aber genau, was Sache war; ich könne ihr ruhig alles erzählen.
Es war ein Spiel. Sie wollte, dass ich mich nackt auszog; ich schob meinen langen Ärmel bis zum Ellbogen empor und zeigte ihr ein paar meiner Narben von den Hundebissen. Ich hasste sie und brauchte sie. Joan Peeler hatte nie ein Stück Margarine gegessen. Sie hatte nie Kleingeld auf einem Parkplatz geschnorrt, um telefonieren zu können. Ich hatte das Gefühl, dass ich Stücke meiner selbst gegen Hamburger eintauschte. Stücke aus meinem Oberschenkel, die ich als Köder auf meinen Haken steckte. Während wir uns unterhielten, skizzierte ich nackte Karnevalstänzer, die kunstvoll gearbeitete Masken trugen.
16
Joan Peeler fand eine neue Pflegestelle für mich. Die Mädchen blickten ostentativ an mir vorbei, während Joan mir half, meine Sachen in ihren verbeulten roten Karmann Ghia zu laden, dessen Heckaufkleber verkündeten: »Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt«, »Wer mit dem Strom schwimmt, treibt irgendwann ins Meer« und »Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin«. Silvana meinte verächtlich, dass ich bevorzugt behandelt werde, weil ich weiß sei. Vielleicht hatte sie Recht. Wahrscheinlich. Es war ganz und gar nicht gerecht. Doch an jenem Tag im März, einem dieser perfekten Märztage in L.A., an denen sämtliche Fotografen der Stadt auf den Beinen waren und Schnappschüsse von stahlblauem Himmel, schneebedeckten Bergkuppen und einer Fernsicht von hundert Meilen machten, war mir das egal. Hauptsache, ich konnte endlich dieses Haus verlassen.
Auf dem Mount Baldy lag Schnee, und man konnte schon aus fünf Meilen Entfernung jede einzelne Palme auf dem Wilshire Boulevard erkennen. Während der Fahrt ließ Joan Peeler eine Kassette mit Musik von den Talking Heads laufen.
»Du wirst diese Leute mögen, Astrid«, sagte sie, während wir auf der Melrose Avenue in Richtung Westen fuhren, vorbei an Karosseriewerkstätten und salvadorianischen Pupuserias. »Ron und Claire Richards. Sie ist Schauspielerin, er arbeitet irgendwas beim Fernsehen.«
»Haben sie Kinder?«, fragte ich in der Hoffnung, dass die Antwort »nein«
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