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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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trotz der offensichtlichen Gegenwart von Metalldetektoren an jedem Eingang. Ich erzählte ihr nichts von den Prügeleien auf dem Schulhof, den Überfällen im Bus. Ein Mädchen hatte in der großen Pause einem anderen mit ihrer Zigarette ein Loch in das T-Shirt gebrannt, direkt vor meinen Augen, und mich dabei so auffordernd angestarrt, als ob sie sagen wollte: »Wag es bloß nicht, mich aufzuhalten!« Ich hatte gesehen, wie man vor dem Klassenraum, in dem der Spanischunterricht stattfand, einen Jungen mit einem Messer bedroht hatte. Während des Sportunterrichts unterhielten sich die Mädchen über ihre Abtreibungen. Diese Dinge brauchte Claire nicht zu erfahren. Ich wollte, dass die Welt für sie in Ordnung war. Alles sollte gut laufen. Egal was passierte – ich hatte immer einen schönen Tag.
    Am Samstag mähte Ron den Rasen und schnitt dabei den Nachtkerzen die Köpfe ab, danach ließ er sich gemütlich nieder, um ein paar Drehbücher zu lesen. Wir aßen Räucherlachs und Bagels zum Frühstück, und dann ging Claire zu ihrem Ballettunterricht. Ich saß mit meinen Wasserfarben neben Ron am Gartentisch. Allmählich gewöhnte ich mich an ihn. Er versuchte nicht, freundlicher zu sein, als mir lieb war.
    »Wie wirkt Claire auf dich?«, fragte er aus heiterem Himmel. Er sah mich über seine Brille hinweg an wie ein alter Mann.
    »Prima«, sagte ich.
    Doch ich ahnte, worauf er hinauswollte. Claire lief nachts durchs Haus, ich hatte ihre nackten Füße auf den Dielen gehört. Sie redete so viel, als hätte sie Angst, dass die Stille sie erdrücken würde, wenn sie ihr nicht mit einem ständigen Wortschwall begegnete. Sie weinte leicht. Sie war mit mir ins Observatorium gegangen und hatte mitten in der Sternenvorführung zu weinen begonnen. Die April-Konstellationen.
    »Du hast doch meine Pager-Nummer? Du kannst mich jederzeit erreichen.«
    Ich malte weiter die Weihnachtssterne vor der weißen Hauswand. Sie sahen aus wie Schrotflintenfeuer.
    Claire schob die Musselingardine zurück und blickte auf die Straße hinaus. Sie wartete auf Ron. Draußen war es noch hell, es ging auf den Sommer zu, eine honigfarbene Sechs-Uhr-Dämmerung.
    »Ich glaube, Ron hat eine Affäre«, sagte sie.
    Ich war überrascht. Nicht über die Vorstellung als solche – ich konnte mir denken, weshalb sie aufhörte zu reden, wenn er telefonierte, weshalb sie ihn vorsichtig aushorchte, um sein Tun und Treiben herauszufinden. Doch dass sie ihren Verdacht aussprach, deutete darauf hin, dass ihr Misstrauen größer geworden war. Ich dachte über Ron nach. Seine Glattheit. Sicher, er konnte bestimmt jederzeit andere Frauen haben, wenn er wollte. Doch er machte sich viel zu viele Sorgen um Claire. Weshalb sollte er sich so um sie bemühen, wenn er es mit einer anderen trieb? Außerdem arbeitete er schwer und viel, kam immer erschöpft nach Hause zurück. Er war auch nicht mehr der Jüngste. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er die nötige Energie dazu aufbrachte.
    »Er arbeitet bloß viel«, sagte ich.
    Claire spähte hinter der Gardine hervor auf die Straße. »Zumindest sagt er das.«
    »Habt ihr meine Schlüssel gesehen?«, fragte Ron. »Ich habe schon überall danach gesucht.«
    »Nimm meine«, sagte Claire. »Ich kann mir einen Satz nachmachen lassen.«
    »Ja, aber es nervt mich, dass ich dauernd Sachen verlege. Sie müssen doch hier irgendwo rumliegen.«
    Er nahm Claires Schlüssel, doch es ärgerte ihn. Er war ein sehr gut organisierter Mensch.
    Eines Tages sah ich, wie Claire einen Füller aus der Innentasche von Rons Jackett nahm und ihn in ihre Jeanstasche steckte.
    »Habt ihr meinen Cross-Füller gesehen?«, fragte er ein paar Tage später.
    »Nein«, sagte sie.
    Er runzelte die Stirn und blickte mich an. »Hast du ihn vielleicht genommen, Astrid? Sag mir die Wahrheit, ich werde deswegen nicht schimpfen. Es ist bloß so, dass es mich wahnsinnig macht, wenn dauernd Dinge verschwinden. Ich verdächtige dich ja nicht, dass du ihn gestohlen hast – aber vielleicht hast du ihn ja ausgeliehen und nicht wieder zurückgetan?«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte Claire nicht verpetzen, andererseits wollte ich auch nicht, dass er mich verdächtigte, ihn zu bestehlen. Ich würde alles tun, um diese Pflegestelle nicht zu verlieren. »Ich habe ihn nicht genommen, wirklich nicht. Das würde ich nie tun.«
    »Ich glaub dir ja«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch das silbrige Haar. »Wahrscheinlich werde ich langsam

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