Weisser Oleander
malte mir aus, das Kind von Claire und Ron Richards zu sein. Wer war ich, die wahre Astrid Richards? Ich war gut in der Schule, ich würde natürlich aufs College gehen. Ich hörte zu, während sie lachten, über irgendetwas, was in ihrer gemeinsamen Zeit in Yale passiert war, obwohl, wie ich wusste, Ron damals noch mit einer anderen Frau verheiratet war; er hatte seine Frau für Claire sitzen gelassen. Ich stellte mir vor, dass ich ebenfalls in Yale wäre und, in einen dicken Kamelhaarmantel gehüllt, durchs knietiefe Herbstlaub schritt. Ich saß in dunkel getäfelten Vorlesungsräumen und schaute mir Diavorträge über da Vinci an. Ich würde ein Auslandsjahr in der Toskana verbringen. Am Tag der offenen Tür kamen Claire und Ron mich besuchen, Claire trug ihre Perlenkette. Sie zeigte mir, wo früher ihr Schlafsaal gewesen war.
Ich berührte den Amethyst an meinem Hals. Von jetzt an nur noch gute Zeiten …
Ron war den Sommer über die meiste Zeit nicht da. Er kam nach Hause, sie wusch ihm die Wäsche und kochte viel zu viel Essen. Er telefonierte, arbeitete auf seinem Laptop, hatte geschäftliche Verabredungen, hörte seinen Anrufbeantworter ab und war wieder weg.
Es warf Claire jedes Mal völlig aus der Bahn, wenn er kam und dann so schnell wieder weg musste, doch wenigstens lief sie nachts nicht mehr im Haus auf und ab. Sie arbeitete beinahe jeden Tag im Garten, trug dabei Handschuhe und einen riesigen chinesischen Strohhut. Pflegte ihre Tomaten. Sie hatte vier verschiedene Sorten gepflanzt, gelbe und rote Cocktailtomaten, Roma-Tomaten für die Spaghettisoße und Fleischtomaten, so groß wie Kinderköpfe. Pflichtbewusst sahen wir jeden Samstagmorgen eine Fernsehsendung, die ihr Tips für die Gartenpflege gab. Sie stützte den hohen Rittersporn mit Pflanzstäben ab, entfernte Knospen von den Rosenstöcken, um größere Blüten zu bekommen. Sie jätete täglich Unkraut, sprengte in der Dämmerung den Garten und füllte dabei die Luft mit dem Geruch nach feuchter, heißer Erde. Ihr spitzer Hut bewegte sich durch die Blumenbeete wie ein schwebender balinesischer Tempel.
Manchmal half ich ihr, meistens jedoch saß ich unter der Chinesischen Ulme und zeichnete. Sie sang die Lieder, die sie in meinem Alter gelernt hatte: »Are You Going to Scarborough Fair« und »John Barleycorn Must Die«. Ihre Stimme war gut ausgebildet, geschmeidig wie Leder, präzise wie die Klinge eines Messerwerfers. Ob sie sang oder sprach, ihre Stimme hatte stets den gleichen anmutigen Klang und einen Akzent, den ich erst für britisches Englisch gehalten hatte, dann aber als das altmodische Amerikanisch erkannte, das die Leute in den Filmen aus den dreißiger Jahren sprachen; auch Claire würde man ein Wort wie »grandios« ohne weiteres abnehmen. Zu klassisch, hatten sie ihr beim Vorsprechen gesagt. Das bedeutete nicht etwa »zu alt«. Es bedeutete vielmehr: zu schön für heutige Verhältnisse, wo alles, was älter als sechs Monate war, bereits als passé galt. Ich hörte ihr gern zu, wenn sie sang oder mir Geschichten aus ihrer Kindheit in der Kleinstadt in Connecticut erzählte; es klang für mich wie der Himmel auf Erden.
Wenn sie zum Vorsprechen oder zum Ballettunterricht ging, hielt ich mich gern in ihrem Schlafzimmer auf, bürstete mir das Haar mit ihrer silbernen Bürste oder berührte die Kleider in ihrem Wandschrank, schlicht geschnittene Baumwollkleider, so einfach geformt wie Vasen, Seide in Aquarelltönen. Ich öffnete den Verschluss der milchigen Flasche mit L’Air du Temps auf ihrer Kommode, zwei Tauben, die sich aneinander schmiegten, und tupfte mir den Duft auf die Handgelenke und hinter die Ohren. Die Melodie der Zeit. Ich betrachtete mich im Spiegel über ihrem Toilettentisch. Mein Haar glänzte in der Farbe matter, ungebleichter Seide; ich trug es von einem Seitenscheitel aus zurückgekämmt, sodass man den leicht gelockten Haaransatz sehen konnte. Claire und ihr Friseur hatten übereinstimmend gesagt, der Pony müsse weg. Ich hatte vorher gar nicht gewusst, dass er mir nicht stand. Ich drehte den Kopf hin und her. Die Narben waren fast völlig verschwunden. Man konnte mich beinahe für schön halten.
An meinem Hals glitzerte der Amethyst. Früher hätte ich ihn wahrscheinlich im Zeh eines Sockens versteckt und in einem Schuh ganz hinten in den Wandschrank gestopft. Doch hier trugen wir unseren Schmuck. Wir hatten ihn verdient. »Wenn eine Frau Schmuck besitzt, trägt sie ihn auch«, hatte Claire erklärt. Nun
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