Weisser Oleander
und Formen und fielen unter ihren ungeschickten Bewegungen wieder auseinander. Sie gab sich geschlagen, ließ sie fallen, schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie erinnerte mich an Caitlin, die dachte, wir könnten sie nicht sehen, wenn sie uns nicht sehen konnte. »Bitte hasse mich nicht«, sagte sie.
»Warum, Claire? Ich hätte dir die Sachen doch gezeigt, wenn du mich gefragt hättest.«
Ich begann die Notizhefte zusammenzusuchen; Reispapier, das mit Kordeln zusammengebunden war, italienische Kladden mit marmoriertem Einband, Schulhefte aus Amsterdam, in Pappe oder in Leder gebunden, mit Schuhbändern zusammengeschnürt. Die Tagebücher meiner Mutter, mein Nichtvorhandensein zwischen den Zeilen. Nichts davon betraf mich. Selbst die Briefe nicht. Nur sie.
»Ich war deprimiert. Du warst nicht da. Sie schien so stark zu sein.«
Sie suchte nach einem Vorbild? Das war lachhaft. Dass Claire meine Mutter bewunderte, löste in mir den Wunsch aus, sie zu ohrfeigen. Wach auf, hätte ich am liebsten geschrien. Ingrid Magnussen könnte dir schon schaden, indem sie dir nur auf dem Weg zum Badezimmer begegnet.
Und nun hatte sie die Briefe gelesen. Sie wusste jetzt, dass ich mich gesträubt hatte, meiner Mutter von ihr zu schreiben. Ich konnte mir vorstellen, wie sehr es sie verletzt hatte. Inzwischen wünschte ich, ich hätte die Briefe fortgeworfen, sie nicht mit mir herumgeschleppt wie einen Fluch. Ingrid Magnussen. Wie konnte ich es ihr nur erklären? Ich wollte nicht, dass meine Mutter von dir erfährt, Claire. Du bist das einzig Gute, was mir je passiert ist. Das wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Wie meine Mutter dich hassen würde. Sie will nicht, dass ich glücklich bin, Claire. Es gefiel ihr, dass ich Marvel gehasst hatte. Dadurch hatte sie sich mir näher gefühlt. Eine Künstlerin braucht nicht glücklich zu sein, hatte sie gesagt. Wenn ich glücklich wäre, bräuchte ich sie nicht mehr, wollte sie damit sagen. Ich könnte sie ja vergessen. Und sie hatte Recht. Das könnte ich vielleicht wirklich.
Sie beschimpfte mich in diesen Briefen. Was interessiert mich eine Eins im Diktat? Euer Blumengarten. Du bist so langweilig, ich erkenne dich gar nicht wieder! Wer sind diese Leute, bei denen du jetzt lebst? Was denkst du wirklich? Doch ich schrieb ihr nie etwas darüber.
»Du willst etwas über meine Mutter wissen?« Ich zog eine graue gestreifte Kladde heraus, schlug sie auf und gab sie Claire. »Hier, lies das.«
Sie nahm die Hände wieder vom Gesicht, ihre Augen waren aufgequollen und rot, die Nase lief ihr. Sie bekam Schluckauf und nahm mir das Heft aus der Hand. Ich brauchte ihr nicht über die Schulter zu blicken. Ich wusste genau, was da stand.
Verbreite ein hässliches Gerücht.
Lass den heiß geliebten Hund eines alten Menschen aus dem Garten frei.
Schlage einem Depressiven vor, sich umzubringen.
»Was ist das?«, fragte sie.
Sag einem Kind, dass es nicht besonders hübsch oder klug ist.
Fülle Rohrfrei in gefaltetes Pergaminpapier, und lasse die Briefchen an den Straßenecken liegen.
Wirf nutzlose Münzen einer fremden Währung in die Tasse eines Bettlers, und sorge dafür, dass er dir überschwänglich dankt. »Gott segne Sie, Miss.«
»Das ist doch aber nicht echt«, sagte Claire. »Es ist doch nicht so, dass sie diese Dinge wirklich tut.«
Ich zuckte mit den Schultern. Wie konnte Claire eine Frau wie meine Mutter verstehen? Sie konnte stundenlang solche Listen schreiben und dabei lachen, bis ihr die Tränen kamen.
Claire sah mich mit hungrigem Blick an, flehentlich. Wie konnte ich ihr länger böse sein? Meine Mutter hatte keine Ahnung, welches mein Lieblingsgericht war, wo ich am liebsten wohnen würde, wenn ich es mir aussuchen könnte. Claire war diejenige, die mich entdeckt hatte. Sie wusste, dass ich in Big Sur leben wollte, in einer Holzhütte mit einem Kamin und einer eigenen Quelle, dass ich Grüner-Apfel-Seife mochte, dass »Boris Godunov« meine Lieblingsoper war, dass ich keine Milch trank. Sie half mir, die Papiere wieder in den Karton zu räumen, ihn zu verschließen und unter das Bett zu schieben.
18
Ron und Claire stritten schon wieder in ihrem Schlafzimmer. Ich lag im Bett und konnte sie hören; an meiner Wand duckte sich das Kaninchen, die Ohren zitternd aufgerichtet. Claire wollte, dass Ron mit seiner Arbeit aufhörte und sich etwas anderes suchte, das nichts mit Viehverstümmelungen oder Hexenkunst in den Pueblos zu tun hatte.
»Was soll ich denn
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