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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Metalldetektors aus. Ich musste sie ausziehen, damit die Wärter sie durchsuchen konnten. Rasselnde Schlüsselbunde, das Zuschlagen des Tores, Walkie-Talkies, so klang ein Besuch bei meiner Mutter.
    Wir setzten uns an einen Picknicktisch unter dem blauen Vordach. Ich beobachtete das Tor, durch das meine Mutter kommen würde, doch Claire blickte in die falsche Richtung, zur Aufnahmestation hin, wo sich die Neuzugänge herumdrückten oder Besen schwangen – ihnen war so langweilig, dass sie sich freiwillig zum Kehren meldeten. Die meisten waren jung, nur ein oder zwei älter als fünfundzwanzig. Ihre dumpfen Gesichter verhießen nichts Gutes.
    Claire zitterte. Sie versuchte, mutig zu sein. »Warum starren sie uns so an?«
    Ich öffnete die Faust, betrachtete meine Handlinien, mein Schicksal. Das Leben würde schwer werden. »Schau nicht rüber zu ihnen.«
    Es war kalt, doch ich schwitzte, während wir auf meine Mutter warteten. Wer konnte es schon sagen, vielleicht würden sie ja Freundinnen? Vielleicht trieb meine Mutter keines ihrer Spielchen – oder wenigstens kein allzu schlimmes. Claire könnte ihr Briefe schreiben; sie könnte ihr eines Tages einen guten Leumund bescheinigen.
    Ich sah meine Mutter; sie wartete darauf, dass der diensthabende Wärter das Tor aufschloss. Sie trug ihr Haar wieder lang, es hing wie ein Schal über die Vorderseite ihres Kleides, über eine Brust herunter. Sie zögerte, sie war genauso nervös wie ich. So schön. Ihre Schönheit hatte mich immer schon überrascht. Selbst wenn sie bloß über Nacht fort gewesen war, hielt ich immer den Atem an, wenn ich sie wiedersah. Sie war dünner geworden seit meinem letzten Besuch; alles überflüssige Fleisch war weggebrannt. Ihre Augen waren sogar noch leuchtender geworden, ich konnte sie vom Tor aus spüren. Sie war sehr aufrecht, muskulös und braun gebrannt. Sie sah weniger aus wie eine Lorelei, mehr wie eine Killerreplikantin aus dem Film »Blade Runner«. Sie schritt lächelnd zu uns herüber, doch ich konnte die Unsicherheit ihrer Hände spüren, die sie mir steif auf die Schultern legte. Wir sahen uns in die Augen, und ich stellte verblüfft fest, dass wir gleich groß waren. Ihre Augen musterten mich, versuchten, etwas Vertrautes zu finden. Ihr Blick ließ mich plötzlich unsicher werden; verlegen wegen meiner modischen Kleidung, ja sogar wegen Claire. Ich schämte mich, weil ich gedacht hatte, ich könnte ihr entfliehen; ja, es sogar gewollt hatte. Jetzt erkannte sie mich wieder. Sie umarmte mich und streckte Claire die Hand hin.
    »Willkommen in Walhalla«, sagte sie und schüttelte Claire die Hand.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Mutter sich in diesem Augenblick fühlen musste, als sie die Frau kennen lernte, bei der ich lebte; die Frau, die ich so sehr mochte, dass ich ihr noch nicht einmal etwas über sie geschrieben hatte. Jetzt konnte meine Mutter selbst sehen, wie schön sie war, wie empfindsam, den Kindermund, das herzförmige Gesicht, ihren zerbrechlichen Hals, ihr frisch geschnittenes Haar.
    Claire lächelte, erleichtert darüber, dass meine Mutter den ersten Schritt getan hatte. Sie kannte sich nicht mit der Natur von Giften aus.
    Meine Mutter setzte sich neben mich, legte die Hand auf meine, doch sie war nicht mehr so groß. Meine Hand hatte die gleiche Form wie ihre. Sie sah das ebenfalls und hielt ihre Handfläche gegen meine. Sie sah älter aus als beim letzten Mal; in ihr gebräuntes Gesicht, um die Augen und den schmalen Mund herum, schnitten sich feine Linien wie von einer Radiernadel ein. Oder vielleicht kam es mir auch nur im Vergleich mit Claire so vor. Sie war mager, konzentriert, scharf; Stahl verglichen mit Claires Wachs. Ich betete zu einem Gott, an den ich nicht mehr glaubte, dass er diesen Besuch bitte bald vorübergehen lassen möge.
    »Hier ist es überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte Claire.
    »Es existiert auch nicht wirklich«, erwiderte meine Mutter und beschrieb mit der Hand eine elegante Geste. »Es ist alles eine Illusion.«
    »Das haben Sie auch in Ihrem Gedicht gesagt.« Ein neues Gedicht, in der Iowa Review. Über eine Frau, die sich in einen Vogel verwandelt, über den Schmerz ihrer frisch wachsenden Federn. »Es war vorzüglich.«
    Ich wand mich innerlich angesichts ihrer altmodischen, schauspielerhaften Ausdrucksweise. Ich konnte mir gut vorstellen, wie meine Mutter sie hinterher bei ihren Mithäftlingen nachäffen würde. Doch ich konnte Claire jetzt nicht

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