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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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mehr beschützen. Es war zu spät. Ich sah, dass sich die immerwährende Spur von Ironie um die Mundwinkel meiner Mutter inzwischen in eine dauerhafte Linie verwandelt hatte; die Tätowierung einer Lebenshaltung.
    Meine Mutter schlug die Beine übereinander, braun und muskulös wie geschnitztes Holz, nackt unter dem blauen Kleid, weiße Turnschuhe. »Meine Tochter sagt, Sie seien Schauspielerin.« Sie trug in der grauen Morgenkälte keinen Pullover. Der Nebel bekam ihr gut; ich konnte das Meer an ihr riechen, obwohl wir hundert Meilen vom Ozean entfernt waren.
    Claire drehte an ihrem Ehering herum, der zu locker auf ihren dünnen Fingern saß. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: meine Karriere ist eine Katastrophe. Ich habe meinen letzten Auftrag so verbockt, dass ich wahrscheinlich nie wieder arbeiten werde.«
    Warum musste sie immer die Wahrheit sagen? Ich hätte ihr erzählen sollen, dass man manche Leute besser anlog.
    Meine Mutter spürte instinktiv den Riss in Claires Lebensgeschichte wie ein Kletterer, der im Nebel die Griffspalten in einer Felswand erspürt. »Die Nerven?«, fragte sie freundlich.
    Claire beugte sich dichter zu meiner Mutter hinüber, eifrig bemüht, sie ins Vertrauen zu ziehen. »Es war ein Albtraum«, sagte sie und fing an, den schrecklichen Drehtag zu beschreiben.
    Über uns drängten sich die Wolken zusammen und bildeten dichte, darmartige Klumpen. Mir war schlecht. Claire hatte Angst vor so vielen Dingen; sie ging nur bis zu den Oberschenkeln ins Wasser, weil sie Angst hatte, weggeschwemmt zu werden. Warum spürte sie dann diese Unterströmung nicht? Das Lächeln meiner Mutter schien so freundlich. Hier gibt es eine reißende Strömung, Claire. Die Rettungsschwimmer haben schon bessere Schwimmer retten müssen als dich.
    »Schauspieler haben es nicht einfach«, sagte meine Mutter.
    »Mir steht’s bis hier.« Claire ließ ihr Granatherz an seiner Kette auf- und abgleiten, schob es sich unter die Lippe. »Nie wieder. Nie wieder schleppe ich mich zum Vorsprechen, bloß damit sie mich dann zwei Sekunden lang anschauen und beschließen, dass ich zu ethnisch für Orangensaftwerbung oder zu klassisch für eine Fernsehmama bin.«
    Das scharf umrissene Profil meiner Mutter vor dem Chinchilla-Himmel. An ihrer Nase entlang hätte man eine senkrechte Linie ziehen können. »Wie alt sind Sie, Anfang dreißig?«
    »Nächsten Monat fünfunddreißig.« Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Sie würde noch aus der Hölle bereitwillig Zeugnis ablegen. Sie konnte dem Drang nicht widerstehen, sich hinzulegen und ihre Brust vor der Lanze zu entblößen. »Deshalb kommen Astrid und ich auch so gut miteinander zurecht. Skorpion und Fisch verstehen einander.« Sie zwinkerte mir über den Tisch hinweg zu.
    Meiner Mutter gefiel es gar nicht, dass wir einander verstanden, Claire und ich. Das merkte ich daran, wie sie an meinen Haaren zog. Die Krähen kreischten und schlugen mit ihren hässlichen, glänzenden Flügeln. Doch sie lächelte Claire an. »Astrid und ich haben uns nie verstanden. Wassermann und Skorpion. Sie ist so verschwiegen, haben Sie das nicht auch feststellen können? Ich wusste nie, was sie gerade dachte.«
    »Ich habe gar nichts gedacht«, sagte ich.
    »Sie wird zutraulicher«, sagte Claire fröhlich. »Wir plaudern eigentlich die ganze Zeit. Ich habe ihr Horoskop erstellen lassen. Es ist sehr ausgeglichen. Auch ihr Name deutet auf viel Glück hin.« Mit welcher Leichtigkeit Claire sich vor den Richtblock kniete, den Nacken hinhielt und dabei fröhlich weiterschwatzte.
    »Bisher hat sie ja nicht viel Glück gehabt«, sagte meine Mutter beinahe schnurrend. »Aber vielleicht ändert sich ihr Glück jetzt.« Konnte Claire nicht riechen, wie die Oleanderblüten einkochten, den leicht bitteren Geruch des Gifts?
    »Wir sind ganz vernarrt in Astrid«, sagte Claire, und einen Augenblick lang sah ich sie so, wie sie meiner Mutter erscheinen musste. Überspannt, naiv, albern. Nein, halt, hätte ich am liebsten gesagt, du darfst sie nicht danach beurteilen. Beim Vorsprechen ist sie nie gut. Du kennst sie überhaupt nicht. Claire redete einfach weiter, ohne zu merken, was vor sich ging. »Sie macht alles so prima, dieses Jahr ist sie sogar unter den besten Schülern. Wir versuchen, ihren Notendurchschnitt ein bisschen aufzupeppen.« Sie beschrieb mit der Faust einen Halbkreis, eine Pfadfindergeste, energisch und optimistisch . Den Notendurchschnitt ein bisschen aufpeppen . Ich fühlte

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