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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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mich gedemütigt und wollte es gar nicht. Wann hatte meine Mutter je Stunde um Stunde mit mir gelernt, um den Notendurchschnitt aufzupeppen? Am liebsten hätte ich Claire ganz schnell in eine Decke gewickelt, so wie man es mit jemandem macht, der Feuer gefangen hat, und sie auf dem Gras gewälzt, um sie zu retten.
    Meine Mutter beugte sich zu Claire, ihre Augen blitzten wie blaues Feuer. »Hängen Sie eine Pyramide über ihren Schreibtisch. Man sagt, dass es das Gedächtnis verbessert«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Mein Gedächtnis ist ganz in Ordnung«, sagte ich.
    Doch Claire war neugierig geworden. Schon hatte meine Mutter einen ihrer Schwachpunkte gefunden, und ich war sicher, dass sie noch mehr finden würde. Und Claire in ihrer Unschuld merkte überhaupt nicht, dass meine Mutter ihre Fessel anzog. »Eine Pyramide. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Obwohl ich Feng Shui praktiziere. Sie wissen schon: wo man die Möbel hinstellt und so weiter.« Claire strahlte über das ganze Gesicht und dachte, meine Mutter sei eine verwandte Seele, die ihre Möbel umstellte, um positive Energie zu verstärken, und mit Zimmerpflanzen redete.
    Ich wollte schnell das Gesprächsthema wechseln, ehe sie anfing, von Mrs. Kromach und den Spiegeln auf unserem Dach zu erzählen. Ich wünschte, sie hätte sich einen Spiegel mitten auf die Stirn geklebt. »Wir wohnen ganz dicht bei den großen Filmlabors auf der La Brea Avenue«, unterbrach ich. »In einer Seitenstraße der Willoughby Avenue.«
    Meine Mutter fuhr fort, als hätte ich gar nichts gesagt. »Und Ihr Mann arbeitet ja sogar in diesem Geschäft. Im Übersinnlichen, meine ich.« Diese ironischen Kommas in ihren Mundwinkeln. »Da haben Sie die Neuigkeiten gleich aus erster Hand!« Sie reckte die Arme; ich konnte mir vorstellen, wie es in ihrer Wirbelsäule knackte. »Sie sollten ihm erzählen, dass seine Sendung hier drinnen sehr beliebt ist.«
    Sie legte mir den Arm auf die Schulter. Ich schüttelte ihn unauffällig ab. Vielleicht musste ich als ihr Publikum herhalten, aber ihre Verbündete war ich nicht.
    Claire fiel das gar nicht auf. Sie kicherte und zupfte an ihrem Granatherzen an der dünnen Kette. Sie erinnerte mich an die Tarotkarte, auf der der Junge zur Sonne hinaufschaut und dabei auf einen Klippenrand zusteuert. »Eigentlich hält er alles bloß für Spaß. Er glaubt nicht an das Übersinnliche.«
    »Man sollte meinen, dass ihm das bei seiner Arbeit ziemlich gefährlich werden könnte.« Meine Mutter klopfte auf die orangefarbene Plastikplatte des Tisches. Ich merkte, wie die Rädchen ihres Verstandes vorwärtsspulten. Am liebsten hätte ich etwas dazwischen geworfen und die Maschinerie angehalten.
    »Genau das habe ich ihm auch gesagt«, meinte Claire, während sie sich mit leuchtenden Augen vorbeugte. »Diesen Herbst hätte ein Geist beinahe jemanden ermordet.« Dann verstummte sie, unsicher, weil sie dachte, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten sei, als sie meiner Mutter gegenüber von Mord gesprochen hatte. Ich konnte in ihr lesen wie in einer aufgeschlagenen Zeitung.
    »Machen Sie sich keine Sorgen um ihn?«
    Claire war dankbar, dass meine Mutter ihren kleinen Fauxpas netterweise übersehen hatte. Ihr war nicht klar, dass meine Mutter genau das umklammert hielt, was sie haben wollte. »Oh, Ingrid, wenn Sie wüssten! Ich finde, dass Leute nicht mit Dingen herumspielen sollten, an die sie nicht glauben. Geister sind real, selbst wenn man nicht an sie glaubt.«
    Oh, wir wussten sehr gut über Geister Bescheid, meine Mutter und ich. Sie rächten sich stets. Doch statt das zuzugeben, zitierte meine Mutter Shakespeare: »Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.«
    Claire klatschte in die Hände, begeistert, dass ausnahmsweise mal jemand anderes den Barden zitierte. Rons Freunde bemerkten ihre Anspielungen nie.
    Meine Mutter warf ihr langes Haar zurück, legte mir wieder den Arm um die Schultern. »Es ist so, als wenn man nicht an Elektrizität glauben würde, bloß weil man sie nicht sehen kann.« Ihre hellen blauen Replikantenaugen lächelten Claire an. Ich wusste genau, was sie dachte. Siehst du denn nicht, was für ein Idiot diese Frau ist, Astrid? Wie konntest du sie mir bloß vorziehen?
    »Ja, da haben Sie vollkommen Recht«, sagte Claire.
    »Ich glaube auch nicht an Elektrizität«, sagte ich. »Oder an Hamlet. Er ist bloß ein Konstrukt. Das Fantasieprodukt eines Dichters.«
    Meine Mutter nahm

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