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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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nahm ihn mit in mein Zimmer und schlitzte ihn auf.
    Liebe Claire,
Ja, es wäre wunderbar, wenn Sie mich besuchen könnten.
    Es ist so lange her, seit ich Astrid zum letzten Mal gesehen habe, ich weiß gar nicht, ob ich sie noch wiedererkennen würde – und ich freue mich immer sehr, meine treuen Leser kennen zu lernen. Ich werde Sie auf meine Besucherliste setzen – Sie sind doch nicht vorbestraft, oder?
    Nur ein kleiner Scherz!
    Ihre Freundin,
Ingrid.
    Die Vorstellung, dass sie einander schrieben, erfüllte mich mit Grauen. Ihre Freundin, Ingrid. Claire musste ihr geschrieben haben, nachdem ich sie kurz vor Weihnachten beim Lesen der Tagebücher in meinem Zimmer erwischt hatte. Ich fühlte mich verraten, hilflos, bange. Ich hätte Claire gern auf den Brief angesprochen, doch dann hätte ich zugeben müssen, dass ich ihre Post geöffnet hatte. Deshalb zerriss ich den Brief und verbrannte ihn in meinem Papierkorb. Hoffentlich war sie nur deprimiert darüber, dass meine Mutter ihr nie zurückschrieb, und gab auf.
    Es war ein grauer Februarmorgen, so verhangen, dass wir die Hollywood Hills von unserem Garten aus nicht sehen konnten. Wir würden meine Mutter besuchen. Claire hatte es arrangiert. Sie zog einen Minirock, einen Rollkragenpulli und Strumpfhosen an, alles in Mahagoni, dann blickte sie stirnrunzelnd in den Spiegel. »Vielleicht wären Jeans besser?«
    »Nichts aus Jeansstoff«, sagte ich.
    Die Vorstellung dieses Treffens war kaum zu ertragen. Ich konnte dabei nur verlieren. Meine Mutter könnte sie verletzen. Oder sie für sich einnehmen. Ich wusste nicht, was schlimmer wäre. Claire gehörte mir, sie liebte mich. Warum musste meine Mutter immer dazwischenfunken? Doch das war meine Mutter – sie musste immer im Mittelpunkt stehen, alles musste sich um sie drehen.
    Seit der Zeit bei Starr hatte ich sie nicht mehr gesehen. Marvel hatte nicht erlaubt, dass die Leute von der Initiative mich mit dem Kleinbus abholten; sie war der Meinung gewesen, je weniger ich sie sah, desto besser. Ich schaute in den Spiegel und stellte mir vor, was meine Mutter wohl jetzt von mir denken würde. Die Narben in meinem Gesicht waren nur der Anfang. Ich hatte in der Zwischenzeit einiges durchgemacht. Ich wüsste gar nicht, wie ich jetzt mit ihr umgehen sollte; ich war zu groß geworden, um mich in ihrem Schweigen zu verstecken. Und ich machte mir Sorgen um Claire.
    Ich fasste mir mit der Hand an die Stirn und meinte zu Claire: »Ich glaube, ich brüte etwas aus.«
    »Lampenfieber«, sagte sie und strich mit den Handflächen ihren Rock glatt. »Habe ich auch ein bisschen!«
    Ich fragte mich ebenfalls, ob ich die richtigen Klamotten angezogen hatte: einen langen Rock, Doc Martens, dicke Socken und einen gehäkelten Pulli mit Spitzenkragen von Fred Segal, dem Laden, in dem die hippe Jugend Hollywoods einkaufte. Meine Mutter würde die Sachen bestimmt schrecklich finden. Doch ich hatte nichts anderes zum Anziehen, meine ganze Kleidung war inzwischen so.
    Eine Stunde lang fuhren wir in Richtung Osten. Claire plapperte nervös. Sie konnte Stille nicht ertragen. Ich schaute aus dem Fenster, lutschte einen Pfefferminzbonbon gegen die Übelkeit beim Autofahren, kuschelte mich in meinen dicken irischen Pullover. Allmählich lichteten sich die Häuser der Vorstadtsiedlungen, wurden durch Holzhandlungen, Felder und den Geruch nach Dünger abgelöst. Weite, nebelverhangene Landschaft, unterbrochen durch Reihen von Eukalyptusbäumen, die als Windschutz angepflanzt worden waren. CYA , das Jugendgefängnis. Das Männergefängnis. Es war länger als zwei Jahre her, seit ich das letzte Mal hier entlanggefahren war, ein ganz anderes Mädchen in rosa Schuhen. Ich erkannte sogar den kleinen Supermarkt wieder. Cola, 12er Pack 2.49 Dollar. »Hier musst du abbiegen.«
    Wir fuhren die gleiche asphaltierte Straße zur California Institution for Women entlang, der Schornstein und der Wasserturm, der Wachturm, der den Rand des Gefängnisses markierte. Wir stellten das Auto auf dem Besucherparkplatz ab.
    Claire holte tief Luft. »Das sieht ja gar nicht so übel aus.«
    Die Krähen krächzten angriffslustig von den Ficusbäumen. Es war eiskalt. Ich zog mir die Pulloverärmel bis zu den Fingerspitzen herunter. Wir passierten den Wachturm. Claire hatte meiner Mutter ein Buch mitgebracht, »Zärtlich ist die Nacht « . Fitzgerald, Claires Lieblingsautor, doch die Wärter erlaubten ihr nicht, es mit hineinzunehmen. Meine Stiefel lösten einen Alarm des

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