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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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meinem Blutkreislauf zunahm, und die einzig mögliche Richtung war hinunter, in Dunkelheit und Vergessen.
    Ich musste sie aufwecken. Sie ins Gesicht schlagen, herumführen, ihr schwarzen Kaffee einflößen. Ich erzählte ihr von dem japanischen Seemann, der sich umgebracht hatte, nachdem er vier Tage auf dem Meer getrieben war. »Zwanzig Minuten später haben sie ihn gefunden. Er war noch warm.«
    Wir hörten von der Straße her das Brummen eines Rasenmähers. Der süße, schwere Duft des Jasmins nahm das letzte bisschen Luft weg. Sie seufzte und reckte dabei ihre Rippen heraus, die so scharf waren wie die Schneidmesser des Rasenmähers. »Aber wie lange kann ein Mensch durch die Gegend treiben und nur auf einen leeren Horizont blicken? Wie lange lässt du dich treiben, bis du dich geschlagen gibst?«
    Was sollte ich ihr darauf antworten? Ich hatte es jahrelang getan. Sie war meine Rettungsinsel, meine Schildkröte. Ich legte mich hin, legte ihr den Kopf auf die Schulter. Sie roch nach Schweiß und L’Air du Temps, allerdings trübe und staubblau, so als hätte ihre Melancholie das Parfum verunreinigt.
    »Alles Mögliche kann passieren«, sagte ich.
    Sie küsste mich auf den Mund. Ihr Mund schmeckte nach Eiskaffee und Kardamom, und ich war überwältigt von diesem Geschmack, ihrer heißen Haut und dem Geruch nach ungewaschenem Haar. Ich war verwirrt, aber nicht widerwillig. Sie hätte alles mit mir machen können.
    Sie ließ sich auf das Kissen zurücksinken, den Arm über die Augen gelegt. Ich stützte mich auf einen Ellbogen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Ich fühle mich so unwirklich«, sagte sie.
    Sie drehte sich auf den Bauch, das Granatherz hing ihr hinten über die Schulter. Ihr ungewaschenes Haar war schwer wie schwarze Trauben, und Taille und Hüfte bogen sich wie eine blasse Gitarre. Sie nahm die Perlenkette und senkte sie in einer Spirale auf die Bettdecke hinunter, doch kaum bewegte sie sich, glitt die Kette auf ihren Körper zu, und das Muster war verdorben. Sie hob die Kette noch mal hoch, versuchte es wieder, wie ein kleines Mädchen, das so lange die Blütenblätter von Gänseblümchen abreißt, bis die richtige Antwort herauskommt.
    »Wenn ich nur ein Kind hätte«, sagte sie.
    Ich spürte ein schmerzhaftes Zupfen an einer selten benutzten Saite. Mir war nur zu gut bewusst, dass ich das Anstatt-Baby war, eine Zweitbesetzung für das, was sie in Wahrheit wollte. Wenn sie ein Baby hätte, würde sie mich nicht mehr brauchen. Doch ein Baby stand gar nicht zur Diskussion. Sie war so dünn, sie war regelrecht magersüchtig. Ich hatte sie mal dabei erwischt, wie sie sich übergab, nachdem wir gegessen hatten.
    »Ich bin einmal schwanger gewesen, damals in Yale. Ich hätte nie gedacht, dass es das einzige Baby war, was ich je haben würde.«
    Das Jaulen des Rasenmähers durchbrach die Stille. Ich hätte ihr gern irgendetwas Tröstliches gesagt, doch mir fiel nichts ein. Ich schob den Herzanhänger wieder über ihre Schulter nach vorn. Ihr dünner Körper strafte ihren Wunsch nach einem Baby Lügen. Sie hatte so stark abgenommen, dass sie inzwischen meine Kleidung tragen konnte. Sie machte es ab und zu, während ich in der Schule war. Manchmal kam ich nach Hause, und bestimmte Kleidungsstücke waren noch warm und rochen nach L’Air du Temps. Ich stellte mir vor, wie sie meine Kleider anzog, ganz bestimmte Teile, die ihr gefielen, einen karierten Wollrock, ein knappes Top. Sich dann vor den Spiegel stellte und sich einbildete, sie sei sechzehn, eine Schülerin der High School. Sie imitierte mich perfekt, einen schlaksigen Teenager. Sie überkreuzte wie ich die Beine, verschlang sie miteinander und schob den einen Fuß hinter die Wade des anderen Beines. Zuckte mit den Achseln wie ich, ehe ich sprach und damit schon vorher das abtat, was ich gleich sagen wollte. Mein verlegenes Lächeln, das aufflackerte und gleich darauf wieder verschwand. Sie probierte mich an wie meine Kleider. Doch sie wollte nicht ich sein, sie wollte bloß sechzehn sein.
    Ich betrachtete den Garten unter den Jalousien, die langen Schatten, die die Zypresse und die Palme auf das gemusterte Grün warfen. Wenn sie sechzehn wäre, was dann? Würde sie dann die Fehler nicht mehr machen, die sie gemacht hatte? Würde sie vielleicht bessere Entscheidungen treffen? Vielleicht müsste sie sich gar nicht entscheiden und konnte einfach sechzehn bleiben. Doch sie probierte die Kleider der falschen Person an. Sie würde bestimmt nicht

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