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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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saß an meinem Schreibtisch unter der lächerlichen Pyramide und zeichnete mein Selbstporträt, dabei schaute ich in einen Handspiegel. Ich zeichnete mit Bleistift, schaute nicht nach unten und versuchte, den Stift nicht abzusetzen. Eine Linie. Das eckige Kinn, dicke Lippen ohne Lächeln, die runden, vorwurfsvollen Augen. Breite dänische Nase, eine blasse Haarmähne. Ich zeichnete mich so lange, bis ich selbst mit geschlossenen Augen eine gute Ähnlichkeit hinbekam; bis ich die Folge meiner Handbewegungen, meiner Armbewegungen, den Ausdruck meines Gesichtes auswendig konnte; bis ich mein Gesicht auf der Wand sehen konnte. Ich bin nicht du, Mutter. Das bin ich nicht.
    Claire hätte eigentlich zu einem Vorsprechen gehen sollen. Sie hatte Ron erzählt, sie würde dorthin gehen, doch sie ließ mich anrufen und sagen, sie sei krank. Sie lag in der Badewanne, weichte sich mit ihrem Lavendelöl und einem Amethystbrocken ein, versuchte ihre angestoßenen Kanten zu glätten. Ron hätte Freitag wieder zu Hause sein sollen, doch irgendetwas war dazwischengekommen. Seine Aufenthalte zu Hause boten ihr Halt, sodass sie sich von einem Kreis im Kalender zum nächsten schwingen konnte. Wenn er sagte, dass er nach Hause käme, und es dann nicht tat, schwang sie sich nach vorn, griff in dünne Luft und stürzte.
    Ich fing einen Brief meiner Mutter aus dem Gefängnis an Claire ab. Darin riet meine Mutter ihr, ihm einen Liebestrank ins Essen zu mischen, doch alles an der Formel, die sie mitschickte, kam mir giftig vor. Ich zeichnete ein Bild über ihren Brief, eine Folge Serpentinen, die von einem Winkel durchbohrt wurden, steckte ihn in einen neuen Umschlag und schickte ihn zurück.
    Im Wohnzimmer spielte Claire ihre Leonard-Cohen-Platten. Suzanne, die sie mitnahm zu ihrem Platz am Fluss, the place by the river.
    Ich zeichnete weiter mein Gesicht.

19

    Im April hatte die Wüste den Frühling bereits aus der Luft gesaugt wie Löschpapier. Die Hollywood Hills ragten unnatürlich klar empor, so als betrachte man sie durch ein Fernglas. Die Hitze ließ die frischen Blätter welken und verbannte uns schwitzend und niedergeschlagen hinter die heruntergelassenen Jalousien des Hauses.
    Claire hatte ihren Schmuck aus der Kühltruhe geräumt und ihn auf dem Bett ausgebreitet, ein erfrischend vereister Piratenschatz. Eiskalte Ketten aus grünen Jadeperlen mit juwelenbesetzten Verschlüssen, ein Bernsteinanhänger, der einen versteinerten Farn in sich barg. Ich drückte den kühlen Stein an meine Wange. Dann drapierte ich ein antikes Kristallglasarmband über meinen Scheitel und ließ es wie eine kühle Zunge meine Stirn lecken.
    »Das hat meiner Großtante Priscilla gehört«, sagte Claire. »Sie hat es bei ihrem Debütantinnenball im Waldorf-Astoria getragen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg.« Sie lag in ihrer Unterwäsche auf dem Rücken, das Haar dunkel vor Schweiß; ihre Stirn zierte ein Armband mit Rauchtopas, unterbrochen von einem feingearbeiteten Goldkettchen, das ihr bis auf die Nasenspitze herunterhing. Claire war furchtbar dünn; ihre spitzen Hüftknochen und Rippen standen hervor wie bei einem Christus aus geschnitztem Holz. Ich konnte den Schönheitsfleck über dem Saum ihrer Unterhose sehen. »Sie war Lazarettschwester in Ypres. Eine sehr tapfere Frau.«
    Jedes Armband, jede Perle hatte eine Geschichte. Ich zog einen rechteckigen Onyxring aus dem Haufen auf dem Bett; seine glänzende schwarze Oberfläche wurde von einem winzigen Diamanten durchbrochen. Ich probierte ihn an, doch er war eng, er passte nur über meinen kleinen Finger. »Wem hat der gehört?« Ich hielt ihn hoch, damit sie ihn sehen konnte, ohne den Kopf zu heben.
    »Urgroßmutter Matilde. Eine Pariser Dame, wie sie im Buche steht.«
    Seine Besitzerin war vermutlich schon hundert Jahre tot, doch sie brachte es trotzdem fertig, dass ich mir plump und unerzogen vorkam. Ich stellte mir glänzend schwarzes Haar vor, Locken, eine scharfe Zunge. Ihre schwarzen Augen hätten meine allerkleinste Unbeholfenheit erfasst. Sie hätte mich missbilligt, meine schlaksigen Arme und Beine, ich wäre zu groß für ihre kleinen Stühle und winzigen Porzellantässchen mit Goldrand gewesen – ein Elch zwischen lauter Antilopen. Ich gab Claire den Ring, sie streifte ihn über, und er passte genau.
    Das Granathalsband, das eiskalt um meine Kehle lag, war ein Hochzeitsgeschenk ihres Urgroßvaters, eines Fabrikanten aus Manchester, an seine Frau Beatrice gewesen. Den goldenen Jaguar mit den

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