Weisser Oleander
gern sein wie ich. Sie war viel zu zart, um an meiner Stelle zu stehen; es würde sie zermalmen wie der Druck bei einem Tiefsee-Tauchgang.
Meistens lag sie so da wie jetzt und dachte an Ron, daran, wann er nach Hause kommen würde, ob es eine andere Frau gab. Grämte sich über das Glück und den Einfluss schlechter Kräfte, während sie die Talismane ihrer Familiengeschichte trug; den Schmuck von Frauen, die etwas mit ihrem Leben angefangen hatten, etwas aus sich gemacht oder sich wenigstens jeden Tag angekleidet hatten; Frauen, die nie eine sechzehnjährige Pflegetochter geküsst hatten, weil sie sich unwirklich vorkamen, die nie das Unkraut in ihrem Garten emporschießen ließen, weil es zu heiß war, um es zu jäten.
Ich hätte ihr am liebsten geraten, ihre Verzweiflung nicht so zu hegen. Verzweiflung ist kein Gast, den man willkommen heißt; man spielt nicht ihre Lieblingsmusik oder bietet ihr einen bequemen Stuhl an. Verzweiflung ist der Feind. Ich hatte Angst um Claire, weil sie ihre Bedürfnisse so offenbarte. Wenn ein Mensch etwas ganz dringend braucht, wird es ihm garantiert genommen, hatte mir meine Erfahrung gezeigt. Um das zu wissen, brauchte ich keine Spiegel aufs Dach zu hängen.
Es war eine Erleichterung, als Ron nach Hause kam. Sie stand auf, duschte und machte das Haus sauber. Sie bereitete das Essen vor, wieder einmal viel zu viel, und legte roten Lippenstift auf. Sie nahm den düsteren Leonard Cohen vom Plattenspieler und legte Teddy Wilsons Big Band auf, sang beim »Basin Street Blues« mit. Ron schlief nachts mit ihr, manchmal sogar nachmittags. Keiner von beiden war dabei besonders laut, doch ich konnte ihr leises Lachen hinter der geschlossenen Schlafzimmertür hören.
Eines Morgens, als Claire noch schlief, hörte ich ihn im Wohnzimmer telefonieren. Er sprach mit einer Frau, das spürte ich sofort, als ich hereinkam; daran, wie er lachte, während er in seinen gestreiften Pyjamahosen in den Hörer sprach und das Telefonkabel um seine glatten Finger wickelte. Er lachte über etwas, was sie gesagt hatte. »Flunder. Egal. Kabeljau.«
Er zuckte zusammen, als er mich in der Tür stehen sah. Das Blut wich ihm aus den rosigen Wangen, kehrte dann wieder zurück, dunkler als vorher. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sodass die grauen Strähnen unter seiner Berührung zurücksprangen. Er redete noch ein bisschen über Termine, Flüge, Hotels, kritzelte dabei etwas auf ein Stück Papier in seiner geöffneten Aktentasche. Ich bewegte mich nicht von der Stelle. Er legte auf.
Er stand auf, zog die Schlafanzughosen hoch. »Wir fliegen nach Reykjavík. Heiße Quellen mit bezeugten Heilkräften.«
»Nimm Claire mit«, sagte ich.
Er warf den Zettel in seine Aktentasche, klappte sie zu und verschloss sie. »Ich werde die ganze Zeit arbeiten. Du kennst doch Claire. Sie würde nur im Motel sitzen und sich in irgendeine morbide Fantasievorstellung hineinsteigern. Es wäre ein Albtraum.«
Widerwillig musste ich ihm Recht geben. Ob er so viel Zeit von zu Hause wegblieb, wie er konnte, um herumzuvögeln oder nur, um Claire aus dem Weg zu gehen, oder ob er – wie unwahrscheinlich auch immer – sogar nur das war, was er zu sein vorgab, ein erschöpfter Ehemann, der versuchte, den Lebensunterhalt zu verdienen: auf jeden Fall wäre es eine Katastrophe, wenn er Claire mitnehmen würde und dann keine Zeit für sie hätte. Sie konnte nicht einfach allein durch die Gegend ziehen und sich die Sehenswürdigkeiten anschauen. Sie würde im Hotel sitzen und sich fragen, was er gerade machte, welche Frau wohl diejenige war, welche. Sich quälen.
Doch das gab ihm noch lange keinen Freifahrschein. Er war ihr Ehemann. Er trug die Verantwortung. Es gefiel mir gar nicht, dass er in Claires eigenem Haus mit dieser Frau telefoniert hatte. Ich konnte ihn mir gut mit einer Frau zusammen in einem dunklen Restaurant vorstellen, wie er sie mit der gleichen glatten Stimme verführte.
Ich lehnte mich in den Türrahmen, falls er versuchen sollte, wieder ins Bett zurückzugehen und so zu tun, als sei nichts passiert. Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass sie ihn brauchte. Seine Pflicht war hier zu Hause. »Sie hat mir erzählt, wie sie sich umbringen würde.«
Das weckte seine Aufmerksamkeit, ließ ihn in seiner Glätte ein bisschen taumeln; ein Mann, der über einen Riss im Bürgersteig stolpert, ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat. Er strich sich das Haar zurück, um Zeit zu gewinnen. »Was hat sie
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