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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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gesagt?«
    »Sie hat gesagt, sie würde sich vergasen.«
    Er setzte sich, schloss die Augen, legte die Hände darüber, die glatten Fingerspitzen berührten sich über seiner Nase. Plötzlich tat er mir Leid. Ich hatte nur seine Aufmerksamkeit gewollt; er sollte merken, dass er nicht einfach davonfliegen und so tun konnte, als sei alles um sie herum normal. Er konnte sie nicht ganz allein mir überlassen.
    »Meinst du, sie redet nur?«, fragte er. Aus seinen haselnuss-braunen Augen sprach die Angst.
    Er fragte mich? Er war doch derjenige, der immer die Antworten parat hatte. Der Mann, der die Realität fest im Griff hatte, der uns sagte, wann wir aufstehen, wann wir zu Bett gehen, welches Programm wir uns anschauen sollten, was wir über Atomtests und die Wohlfahrtsreform zu denken hatten. Er war derjenige, der die Welt sicher in seinen glatten Händen hielt wie einen großen Basketball. Ich starrte ihn hilflos an, entsetzt darüber, dass er nicht wusste, ob Claire sich umbringen würde oder nicht. Er war ihr Ehemann. Wer war ich schon – irgendein Kind, das sie bei sich aufgenommen hatten.
    Unweigerlich stellte ich mir Claire vor, wie sie über und über mit ihrem Schmuck behängt auf dem Bett lag. Perlen quollen ihr aus dem Mund. Was sie alles aufgegeben hatte, um mit Ron zusammen sein zu können. Wie sie nachts weinte, die Arme eng um den Körper geschlungen, in der Mitte gekrümmt wie jemand mit Magenkrämpfen. Aber nein, sie wartete immer noch auf mich, wenn ich von der Schule nach Hause kam; sie würde nicht wollen, dass ich sie tot auffand. »Sie vermisst dich.«
    »Bald kommt das Sommerloch«, sagte Ron. »Wir werden irgendwohin fahren. Um mal ganz hier rauszukommen, nur wir drei. Zelten im Yellowstone Park, irgend so was. Was hältst du davon?«
    Nur wir drei; reiten, wandern, ums Lagerfeuer herum sitzen, die Sterne auswendig lernen. Kein Telefon, kein Fax, kein Laptop. Keine Partys, Besprechungen, Freunde, die mit einem Skript vorbeikamen. Ron ganz für sie allein. Das wäre etwas, auf was sie sich freuen könnte. Zelten mit Ron würde sie auf keinen Fall verpassen wollen. »Das würde ihr gefallen«, sagte ich schließlich. Obwohl ich dachte, dass ich es erst glauben würde, wenn ich es mit eigenen Augen sah. Er war groß darin, seine Versprechen nicht zu halten.
    »Ich weiß, dass es nicht leicht für dich gewesen ist.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. Glatt. In seiner Hand war Hitze, sie wärmte mir die ganze Schulter. Einen Moment lang fragte ich mich, wie es wäre, mit Ron zu schlafen. Seine nackte Brust so nahe, dass ich sie hätte streicheln können, die grauen Haare, die 25-Cent-großen Brustwarzen. Er roch gut, Monsieur Givenchy. Seine Stimme, nicht zu tief, sandig und beruhigend. Doch dann fiel mir wieder ein, dass er der Mann war, der all die Probleme verursachte, der nicht wusste, wie er Claire lieben sollte. Er betrog sie, das konnte ich an seinem Körper spüren. Er hatte die ganze Welt, Claire hatte bloß ihn. Doch ich konnte mir nicht helfen: Die Hand auf meiner Schulter gefiel mir, der Blick aus seinen Augen. Ich versuchte, nicht auf seine männliche Präsenz zu reagieren, den kräftigen Körper in den blauen Pyjamahosen. Sie ist eine junge Frau , hatte er zu Claire gesagt. Es war bloß ein Teil seiner Nummer, die Anerkennungstour. Wahrscheinlich machte er das mit allen einsamen Löffelbeschwörern so. Ich trat einen Schritt zur Seite, sodass sein Arm herunterfiel. »Du hältst besser, was du versprichst«, sagte ich.

20

    Getreu seinem Versprechen mietete Ron im Juni eine Blockhütte in Oregon. Kein Telefon, kein Strom, er ließ sogar seinen Laptop zu Hause. In den Wäldern der Cascades gingen wir in hüfthohen grünen Gummistiefeln angeln. Er zeigte mir die Fliegenrolle und brachte mir bei, die Angel in einer zarten Beschwörung auszuwerfen, um die glitzernde Stahlkopfforelle wie ein Geheimnis aus dem Wasser zu ziehen. Claire studierte eifrig Vogelbücher und Wildblumenführer, erpicht darauf, alle Dinge zu benennen, als ob die Namen den Erscheinungen erst Leben verliehen. Wenn sie etwas identifiziert hatte, war sie so stolz, als hätte sie selbst den Wiesenstärling, den Frauenhaarfarn erschaffen. Oder wir saßen auf einer großen Wiese, jeder an einen eigenen Baum gelehnt, und Ron spielte auf der Mundharmonika Cowboylieder, »Red River Valley« und »Yellow Rose of Texas«.
    Ich musste daran denken, wie meine Mutter in Amsterdam »Whopee ti yi yo, git along little dogies«

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