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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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gesungen hatte. Und mir erklärt hatte, dass ein »dogie« ein Kalb sei, das seine Mutter verloren hatte. »It’s your misfortune and none of my own« – dein Pech und nicht meins. Ron kam aus New York; ich fragte mich, woher er solche Lieder kannte. Vielleicht aus dem Fernsehen. Ich merkte, wie er mich ansah, wenn ich am Flussufer zeichnete, tat aber nichts, um ihn zu ermutigen. Ich konnte gut ohne Ron leben, aber nicht ohne Claire.
    Wenn es regnete, gingen er und Claire auf Waldpfaden spazieren, die mit dicken, weichen Kissen aus Kiefernnadeln bedeckt waren, das Farnkraut roch wie Lakritz. Abends spielten wir Monopoly und Scrabble, Siebzehnundvier, Scharaden. Claire und Ron spielten Szenen aus »Endstation Sehnsucht« und »Picnic«. Ich konnte mir vorstellen, wie es gewesen sein muss, als sie sich kennen lernten. Wie er sie bewunderte. Daran sollte sie sich lieber erinnern: dass er derjenige gewesen war, der sie gewollt hatte.
    Ich hatte vorher noch nie so viel Zeit mit Ron verbracht. Es begann mich zu stören, dass er immer derjenige war, der alles bestimmte. Wenn er aufstand, weckte er mich und Claire. Wenn wir dagegen als Erste aufstanden, schlichen wir auf Zehenspitzen umher, weil Ron ja noch schlief. Eine Männerwelt. Es ärgerte mich, dass es immer Ron war, der den Tagesablauf festlegte; dass er entschied, ob der Tag gut zum Angeln oder Wandern war oder sich besser für einen Ausflug an die Küste eignete. Ron bestimmte, ob wir zum Laden fahren mussten oder ob unsere Vorräte noch einen Tag reichten, ob wir Regenjacken oder Pullover anzogen oder Feuerholz einkauften. Ich hatte nie einen Vater gehabt, und jetzt wollte ich keinen mehr.
    Doch Claire sah wieder gesund aus. Sie übergab sich nicht mehr. Ihre Gesichtsfarbe war frisch. Sie kochte literweise Suppen in einem großen gusseisernen Topf, während Ron Fische über dem offenen Feuer grillte. Morgens aßen wir Pfannkuchen oder Eier mit Speck. Ron grinste, wenn er knirschend auf die knusprigen Speckstreifen biss. »Gift, Gift. Und bloß so kleine Portionen« – die Pointe eines ihrer gemeinsamen Witze. Für das Mittagessen packten wir dicke Butterbrote in unsere Rucksäcke: Schinken und Salami, Tomaten, geräucherten Käse.
    Claire beklagte sich, dass sie nicht mehr in ihre Jeans passe, doch Ron umarmte ihre Oberschenkel und tat so, als wolle er hineinbeißen. »Ich mag es, wenn du fett bist. Gewaltig. Eine Rubensfigur.«
    »Du Lügner.« Sie lachte und schlug nach ihm.
    Ich ließ meine Angelschnur in den McKenzie baumeln. Die Sonne spiegelte sich glitzernd auf der Wasseroberfläche, tiefer unten flitzten die Umrisse der Fische, und die Bäume warfen ihre Schatten auf das fließende Wasser. Flussaufwärts brachte Ron seine Angelschnur aus und rollte sie wieder auf, doch mir war ziemlich egal, ob ich etwas fing oder nicht. Claire spazierte am Ufer entlang und sang dabei in einem fließenden, mühelosen Sopran: »Oh Shenandoah, I long to hear you …« Sie pflückte Wildblumen, die sie dann zwischen Pappkartons presste, wenn wir zur Blockhütte zurückkamen. Ich fühlte mich dort zu Hause: die Stille, die verschiedenen Grüntöne unter dem schwingenden Himmelsbogen, der von den langen Fingern der Jefferson-Pinien und Douglasien umrahmt wurde; ein Himmel, in dem man sich schwebende Engel und Drachen vorstellen konnte. Ein Himmel wie ein Fenster auf dem Porträt eines Kardinals aus der Renaissance. Die Musik fließenden Wassers und der harzige Duft der immergrünen Bäume.
    Ich warf die Schnur aus und spulte sie auf, während mir die Sonne den Rücken wärmte. Ich betrachtete meinen Schatten, der auf dem Wasser ein dunkles Fenster zwischen den Lichtreflexen bildete. Ich konnte bis auf den Grund sehen, die Steine und Fische; Umrisse, die auf den Köder zuschwammen.
    Plötzlich summte die Rolle, und die Schnur spulte sich ab. Ich geriet in Panik. »Ich hab einen!«, schrie ich Ron zu. »Was mach ich jetzt?«
    »Lass ihn schwimmen, bis er von allein aufhört!«, rief Ron den Fluss hinunter.
    Die Rolle drehte sich immer noch, wurde aber schließlich langsamer.
    »Jetzt hol ihn dir ran.«
    Ich kurbelte und fühlte dabei das Gewicht des Fisches; er war stärker, als ich gedacht hatte, oder vielleicht war es auch die Strömung, die ihn wegzog. Ich stemmte die Fersen in den Boden und zog und sah, wie sich die lange, flexible Angelrute bog. Dann verlor die Schnur plötzlich die Spannung. »Er ist weg!«
    »Drillen!«, schrie Ron, während er den Fluss hinuntergewatet

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