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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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mich sehen konnte. Ich wünschte, sie könnte diesen Kranich sehen, den Grund des Flusses. Es war schön, und ich hatte es eigentlich nicht verdient, doch trotzdem hielt ich mein Gesicht in die letzten goldenen Sonnenstrahlen.
    Am nächsten Tag weckte Rena uns vor dem Morgengrauen. Ich hatte gerade geträumt, dass ich ertrank, bei einem Schiffsunglück im Nordatlantik; es war also ganz gut, dass ich aufwachte. Das Zimmer war noch dunkel und eiskalt. »Ihr Arbeiter der Welt, erhebt euch!«, rief Rena und vertrieb unsere Träume mit dem Rauch ihrer schwarzen Zigarette. »Gibt nix zu verlieren, außer Visacard, Happy Meal, Always Ultra.« Sie schaltete das Licht an.
    Yvonne in dem anderen Bett stöhnte, hob einen Schuh auf und warf ihn halbherzig nach Rena. »Scheißdonnerstag.«
    Während wir uns anzogen, kehrten wir einander den Rücken zu. Yvonnes schwere Brüste und ausladende Oberschenkel waren verblüffend schön. Ich sah Matisse in ihren Umrissen, ich sah Renoir. Sie war erst so alt wie ich, doch verglichen mit ihr hatte ich den Körper eines Kindes.
    »Ich werd diese puta noch bei der Einwanderungsbehörde anzeigen. Die sollen sie mit einem Arschtritt nach Russland zurückbefördern!« Sie kramte in dem Kleiderhaufen herum, zog einen Rollkragenpulli heraus, roch daran und warf ihn dann wieder zurück. Ich stolperte durch den Flur, um mir das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Als ich aus dem Bad kam, war sie schon in der Küche, goss Kaffee in eine angeschlagene Thermoskanne und stopfte Salzcracker in eine Tüte.
    In der kalten Dunkelheit stiegen weiße Dampfwolken aus dem Auspuff des holzverkleideten Van, geisterhaft in seiner weißen Farbe, die die graue Spachtelmasse darunter nicht ganz verbergen konnte. Rena Grushenka saß auf dem breiten Fahrersitz, die Beine hochgelegt, rauchte eine schwarze Sobranie mit Goldspitze und schlürfte Kaffee aus einem Kunststoffbecher von Winchell’s Donut Shop. Auf dem Tapedeck liefen die Rolling Stones. Ihre hochhackigen Stiefel klopften im Takt gegen das Armaturenbrett.
    Yvonne und ich stiegen hinten ein und schlossen die Türen. Es war dunkel und roch nach vergammelten Teppichfliesen. Wir kauerten uns auf dem herausgerissenen Autositz an der Rückwand des Laderaums aneinander. Niki stieg vorne ein, und Rena fuhrwerkte am Hebel der Lenkradschaltung herum. »Schönen Gruß ans Getriebe!« Niki zündete sich eine Marlboro an, hustete feucht und spuckte aus dem Fenster.
    »Ich hab extra wegen dem Baby mit dem Rauchen aufgehört, aber das bringt ja hier gar nichts!«, sagte Yvonne.
    Rena fand den ersten Gang, und wir rollten in die Stille der Ripple Street hinaus. Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen erhellte das ruhige Viertel, die Luft roch nach Karamell und Vanille von der Nachtschicht in der Großbäckerei Dolly Madison. Ich konnte die LKW s vor den Laderampen einparken hören, während wir vom Fluss aufwärts fuhren. Ein tiefes Hupen aus einem LKW erklang, und Rena warf ihr zotteliges braunes Haar zurück. Selbst um fünf Uhr früh war ihr Hemd schon aufgeknöpft, ihr Busen wurde von einem Push-Bra in die Höhe gedrückt. Sie sang mit ihrer rauchigen Altstimme zur Musik von der Kassette: »Some girls give me diamonds, some girls heart attacks …« Ihre Jagger-Imitation war beeindruckend.
    Wir bogen nach links auf den Fletcher Drive ab, vorbei an der Mazda-Reparaturwerkstatt und dem Star-Strip-Club, unser Van klapperte wie eine Blechbüchse durch die feuchte Dunkelheit. Wir fuhren unter der 5 hindurch und überquerten den Riverside Drive, wo es stark nach Hamburgern von Rick’s roch. Am Astro Coffeeshop bog sie links ab. Auf dem Parkplatz des Coffeeshop standen zahlreiche Polizeiautos. Sie spuckte dreimal aus dem Fenster, während wir daran vorbeifuhren.
    Dann fuhren wir bergauf in ein Viertel mit schmalen, steilen Straßen. Wand an Wand drängten sich die Häuser an den Berg, stuckverzierte Zweifamilienhäuser, nichts sagende quadratische Kästen, ab und zu ein älteres Haus im spanischen Stil. Treppen auf der zum Berg gelegenen Seite, Carports auf der talwärts gelegenen. Ich kniete mich zwischen die Vordersitze, um besser rausschauen zu können. Von hier aus konnte ich das ganze Flusstal sehen, die Scheinwerfer der Autos auf der 5 und der 2, die schlafenden, mit Lichtern gepunkteten Hügel von Glassell Park und Elysian Heights. Leere Grundstücke, dicht bewachsen mit wildem Fenchel, der in der feuchten Dunkelheit nach Lakritz roch. Der Geruch verband

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