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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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eine kleine Bürste voller schwarzer Haare, ein Schlüsselring mit einer kleinen blauen Gummibörse als Anhänger, die Sorte, die man an den Seiten drückt und die sich dann in der Mitte öffnet wie ein Mund. Ich spielte damit herum und ließ die Börse zur Musik aus dem Tapedeck singen.
    Der Sonnenaufgang am östlichen Horizont sah aus wie ein Bild in Wischtechnik: grauweiße Wolken in gedämpfter, verriebener Pastellkreide, der Himmel mit einem Schwamm getupft. Die von Menschen geschaffenen Formen der Landschaft schienen in den Hintergrund zu treten, die Verschiebebahnhöfe, der Freeway, die Häuser und Straßen, bis nur noch blaue Hügel übrigblieben, von hinten durch das Licht der Morgendämmerung angestrahlt, das sich rot über dem Bergkamm erhob. Es war die Szenerie für einen Westernfilm. Fast konnte ich die Arme des riesigen Saguarokaktus sehen, den vorbeihuschenden Kojoten und den jungen Fuchs. Das Große Becken, das Tal des Rauches. Ich hielt den Atem an. Ich wünschte, es könnte immer so sein: keine Menschen, keine Stadt, nur die aufgehende Sonne und die blauen Hügel.
    Doch die Sonne stieg über die Hügelkuppe, brachte die 2 und die 5 wieder zurück, den frühmorgendlichen Verkehr Richtung Innenstadt, die LKW -Fahrer, die Richtung Bakersfield fuhren und dabei an Pfannkuchen dachten, und uns in unserem Van am Sperrmülltag.
    Wir sichteten weiter das städtische Treibgut, bargen ein Weinregal und ein paar beschädigte Korbstühle. Wir nahmen ein Laufgestell aus Aluminium an Bord, eine Kiste verstaubter Bücher und eine volle Recycling-Tonne mit leeren Bierflaschen Marke Rolling Rock, die den modrigen Geruch im Laderaum noch verstärkten. Ich sicherte mir ein Buch über Buddhismus und eins, das »Meine Antonia« hieß.
    Mir gefielen die gewundenen Straßen und die Bougainvillea-Flecken auf den Hügeln, die langen Treppenaufgänge. Wir fuhren an dem Haus vorbei, in dem Anaïs Nin gelebt hatte, und niemand war da, dem ich es hätte zeigen können. Meine Mutter war früher gern an den Häusern vorbeigefahren, in denen berühmte Schriftsteller gelebt hatten: Henry Miller, Thomas Mann, Isherwood, Huxley. Ich konnte mich noch gut an diese besondere Ansicht des Sees erinnern, an den chinesischen Briefkasten. Wir hatten all ihre Bücher besessen. Mir hatten die Titel gefallen – »Leitern ins Feuer«, »Haus des Inzests« – und ihr Gesicht auf dem Umschlag, ihre falschen Wimpern, ihr aufgedrehtes Märchenbuchhaar. Es gab ein Bild von ihr, auf dem sie den Kopf in einen Vogelkäfig steckte. Doch wen interessierte das jetzt überhaupt noch?
    Wir hielten an, um Doughnuts zu kaufen, und scheuchten dabei einen Schwarm Tauben vom Parkplatz auf, die sich in einem großen flatternden Rad aus dunklen und hellen Grautönen erhoben, die schale Morgensonne auf den Flügeln. Die Frische des Morgens verschwand schon wieder aus der Luft. Yvonne blieb im Auto sitzen und las in ihrer Zeitschrift. Das Mädchen hinter der Theke bei Winchell’s rieb sich den Schlaf aus den Augen, als Rena, Niki und ich den Laden betraten. Rena beugte sich in ihren kirschroten Hosen über die Glasvitrine und gab den Obdachlosen und den Psychos aus dem nahe gelegenen Männerwohnheim eine Gratisdemonstration ihres Busens und Pos und stellte grausam zur Schau, was die Männer doch nicht bekommen konnten. Ich musste unweigerlich an Claire denken, daran, wie der Penner an ihrem Haar gerochen hatte. Wir bestellten unsere Doughnuts: mit Marmelade und Pudding gefüllt und glasiert. Rena ließ das Mädchen ihren Kaffeebecher nachfüllen.
    Draußen vor der Tür hockte ein Mann und hielt ein Tablett mit Marienkäfern in durchsichtigen Plastikkugeln vor sich.
    »Marienkäfer«, rief er, halb singend. »Mariiienkäfer.«
    Er war klein und drahtig, von unbestimmbarem Alter, das Gesicht wettergegerbt, der schwarze Bart und der lange Pferdeschwanz von grauen Strähnen durchzogen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Obdachlosen schien er weder betrunken noch verrückt zu sein.
    Rena und Niki ignorierten ihn, doch ich blieb stehen, um die roten Pünktchen zu betrachten, die in der Plastikkugel umherkrabbelten. Was schadete es schon, höflich zu sein? Im Übrigen hatte ich noch nie gesehen, dass jemand berufsmäßig Marienkäfer verkaufte.
    »Sie fressen die Blattläuse in Ihrem Garten«, sagte er.
    »Wir haben keinen Garten«, entgegnete ich.
    Er lächelte. Seine Zähne waren zwar grau, aber nicht verfault. »Nehmen Sie trotzdem eine Kugel. Sie bringen

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