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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »Er ist nach New York gegangen, hast du das noch nicht gehört?« Dann wühlte er unter dem Ladentisch herum und förderte zwei Briefe zutage, die Umschläge so dicht bemalt, dass man die Adresse von Yellow Brick Road kaum erkennen konnte. Unter der Anschrift stand: »Für Astrid Magnussen aufbewahren«.
    »Kein Absender?«
    »Er zieht ziemlich viel um. Wundere dich nicht.«
    Ich ließ einen Brief für Paul zurück, in dem ich mein Leben in der Ripple Street illustriert hatte. Das Müllsammeln, unser Wohnzimmer. Ich wusste nicht, was ich sonst damit machen sollte. Er war fort.
    Ich saß mit Niki an einem Tisch im Rock ’n’ Roll Denny’s auf dem Sunset Boulevard, wo sie mit den Jungen von der Band verhandelte, zwei weißgebleichte Blonde und ein hyperaktiver Brünetter – der Drummer, wie mir, ohne zu fragen, klar war. Ich hatte Angst, die Briefe zu öffnen. Statt dessen skizzierte ich ein paar der anderen Gäste. Goth-Mädchen mit schwarzen Strumpfhosen und zotteligen Haaren, die über Pepsi Light und Extra-Zwiebelringen Komplotte schmiedeten. Auf der anderen Seite aßen zwei Altrocker in Leder und Nieten ihre Burger, einer sprach in ein Handy. Es war wie eine Art Modenschau der verschiedenen Epochen: Mohikanerschnitte, Entensterze und Dreadlocks, Polyester und Plateauschuhe.
    »Ich bezahl doch nicht dafür, zusammen mit zwölf anderen Bands zu spielen! Eh, seid ihr behindert?«, sagte Niki gerade. »Die sollen euch bezahlen und nicht umgekehrt!« Ich zeichnete den blonden Bassisten, wie er schuldbewusst von innen mit der Zunge an seinem Kinnpiercing herumspielte. Der Brünette trommelte wie besessen mit seinem Messer gegen die Wassergläser. »Ihr müsst da auftreten, wo sie euch bezahlen. Wo seid ihr überhaupt her – aus Fresno?«
    »Aber es ist wie im Roxy, echt«, sagte der größere der beiden Blonden. Er war offensichtlich der Sprecher, der Wortgewandte. Leadgitarrist. »Das Roxy . Es ist genau wie …«
    »Das Roxy«, sagte der andere Blonde.
    Schließlich hatte ich genügend Mut gesammelt, um den ersten Brief zu öffnen, und schlitzte den schönen Umschlag mit einem Messer von Denny’s auf. Im Umschlag war eine Reihe Tuschezeichnungen in Pauls unverwechselbarem Comic-Stil, kühnes Schwarz und Weiß. Paul, der durch einsame Comic-Straßen wandert. Paul in einem Nachtcafé. Er sieht ein blondes Mädchen mit kurz geschorenem Haar auf der Straße vorbeigehen und folgt ihr, nur um herauszufinden, dass sie jemand anders ist. Würde er sie jemals wiedersehen?, hieß die letzte Bildüberschrift, während er an seinem Schreibtisch saß und zeichnete, die Wand mit Bildern von mir bedeckt.
    Der zweite Umschlag enthielt die Comic-Geschichte eines Gefängnisausbruchs, drei Jungen sprengen sich mit Raketenwerfern ihren Weg durch Stahltüren nach draußen. Sie stehlen ein Auto, auf den Hinweisschildern steht »Leaving L. A.«. Sie brausen durch die nächtliche Wüste. Als Nächstes kommt ein Straßenschild, auf dem in mosaikartiger Schrift »St.Marks Place« steht. Kantige, hippe Leute in Schwarz betreten einen Hauseingang, Nummer 143. Die Freiheitsstatue im Hintergrund trägt eine Sonnenbrille und liest einen Comic.
    Ich faltete die Zeichnungen zusammen, schob sie wieder in den Umschlag zurück, der mit Blitzen, Sternen und einem Mädchen auf einem weißen Pferd in einem Comic-Himmel bemalt war. Für Astrid Magnussen aufbewahren . Wenn ich das bloß vorher gewusst hätte.
    Und jetzt war es zu spät. Ich sah Sergej an, der mir gegenüber an Renas Küchentisch saß. Ob ich einen Freund in New York hatte oder nicht, kümmerte ihn einen feuchten Kehricht. Es kümmerte ihn ja noch nicht mal, dass seine Freundin nebenan war. Er war genau wie eine von Renas weißen Katzen – essen, schlafen und herumhuren. Seit der Nacht, in der ich sie zusammen auf der Couch gesehen hatte, betrachtete er mich immer mit seinem angedeuteten Grinsen, als teilten wir beide ein besonderes Geheimnis. »So – und wie ist Freund?«, fragte er. »Groß? Ist er groß?«
    Niki lachte. »Er ist riesig, Sergej. Hast du noch nie von ihm gehört? Moby Dick, der Superschwanz?«
    Olivia hatte mir alles über Männer wie Sergej erzählt. Harte Männer mit bläulichen Adern in ihren gemeißelten weißen Armen, schwerlidrige blaue Augen und schmale Hüften. Mit so einem Mann konnte man ein Abkommen treffen. Einem Mann, der wusste, was er wollte. Ich hielt die Augen auf meinen Brokkoli-Käse-Auflauf

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