Weisser Oleander
Schauspielerinnen mit Eheringen von zwei Karat. Sie bekennen sich zu einem Netzwerk aus abtrünnigen Feministinnen, Lesbierinnen, Wicca-Anhängerinnen und Performance-Künstlerinnen von der ganzen Westküste, einer Art Göttinnen-Zug aus dem Untergrund. Sie sind bereit, mir zu helfen, wo sie nur können; sie sind bereit, mir alles zu vergeben. Wieso kannst du das nicht?
Deine dich liebende Mutter,
die masturbierende Müllkrähe
P.S. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich habe mich gerade mit meiner neuen Strafverteidigerin getroffen, Susan D. Valeris. Erkennst du den Namen wieder? Die Verteidigerin der weiblichen Entrechteten? Die mit den schwarzen Locken und roten Lippen wie diese klappernden Plastikgebisse zum Aufziehen. Sie ist gekommen, um Kapital aus meinem Martyrium zu schlagen. Ich missgönne es ihr nicht. Die Situation gibt mehr als genug für uns beide her.
Ich stand in der Eingangstür und sah zu, wie die Wolken von den Bergen emporstiegen. Sie würden sie nicht freilassen. Sie hatte einen Mann umgebracht, er war erst zweiunddreißig gewesen. Wieso sollte es etwas ändern, dass sie eine Dichterin war, eine Gefängnis-Plath? Ihretwegen war ein Mann gestorben. Er war nicht vollkommen gewesen, er war selbstsüchtig gewesen, ein oberflächlicher Mensch – aber trotzdem. Sie würde es wieder tun, beim nächsten Mal sogar mit noch weniger Grund. Man brauchte sich nur anzuschauen, was sie mit Claire gemacht hatte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass irgendein Rechtsanwalt in Erwägung ziehen könnte, sie zu verteidigen.
Nein, das hatte sie sich ausgedacht. Sie versuchte, ihre Schlinge um mich zu legen, mich zum Stolpern zu bringen, mich in ihren Beutel zurückzustopfen. Es würde aber nicht funktionieren, nicht mehr. Ich hatte mich aus ihrer seltsamen Gebärmutter befreit, ich würde mich nicht mehr zurücklocken lassen. Sollte sie doch ihre neuen Kinder mit ihren Fantasien einwickeln, mit ihnen unter den Ficusbäumen im Besucherhof Komplotte schmieden. Ich wusste sehr gut, wovor man Angst haben musste. Sie hatten ja keine Ahnung, dass im Efeu Schlangen lauerten.
Auf der Marshall High School nahmen wir im Geschichtsunterricht den Amerikanischen Bürgerkrieg durch. Im überfüllten Klassenzimmer saßen die Schüler auf Fensterbänken und auf Bücherregalen an der hinteren Wand. Die Heizung funktionierte nicht, und Mr. Delgado trug einen dicken grünen Pullover, den ihm irgendjemand selbst gestrickt hatte. Er schrieb mit nach links geneigter Schrift das Wort »Gettysburg« an die Tafel, während ich versuchte, das grobe Strickmuster und seine linkische Haltung auf meinem liniierten Schreibblock festzuhalten. Dann wandte ich mich meinem Geschichtsbuch zu, das auf dem Tisch lag, aufgeklappt bei der Fotografie des großen Schlachtfeldes.
Ich hatte sie zu Hause mit der Lupe untersucht. Man konnte es ohne Lupe nicht sehen, doch die Körper auf dem Foto hatten keine Schuhe an, keine Gewehre, keine Uniformen. Sie lagen in Socken auf dem kurzen Gras, ihre weißen Augen starrten in den bewölkten Himmel, und man konnte nicht erkennen, zu welcher Seite sie gehörten. Die Landschaft endete hinter einer Baumreihe in der Ferne, wie ein Bühnenbild. Der Krieg war weitergezogen und hatte nur die Toten zurückgelassen.
In den drei Tagen der Schlacht hatten einhundertfünfzigtausend Männer in Gettysburg gekämpft. Es hatte fünfzigtausend Opfer gegeben. Ich kämpfte mit der Ungeheuerlichkeit dieser Zahl. Einer von dreien gefallen, verwundet oder vermisst. Wie ein riesiges Loch, das in das Gewebe des Seins gerissen worden war. Claire war gestorben, Barry war gestorben, in Gettysburg aber waren siebentausend gestorben. Wie hatte Gott ihrem Sterben zusehen können, ohne zu weinen? Wie konnte er die Sonne je wieder über Gettysburg aufgehen lassen?
Mir fiel ein, dass meine Mutter und ich einmal ein Schlachtfeld in Frankreich besucht hatten. Wir hatten einen Zug nach Norden genommen, eine lange Fahrt. Meine Mutter trug Blau; bei uns waren eine Frau mit dickem schwarzem Haar und ein Mann in einer abgetragenen Lederjacke. Wir aßen während der Zugfahrt Schinken und Orangen. In den Orangen waren dunkle Flecken; sie bluteten. Am Bahnhof kauften wir Mohnblumen und fuhren mit dem Taxi aus der Stadt. Das Taxi hielt am Rand eines riesigen Feldes. Es war kalt, das braune Gras duckte sich im Wind. Weiße Steine sprenkelten die Ebene, und ich konnte mich noch daran erinnern, wie leer sie gewesen war; der Wind hatte durch meinen
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