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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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dünnen Mantel hindurchgeblasen. Wo ist es?, hatte ich gefragt. Ici , erwiderte der Mann und strich sich über den blonden Schnurrbart. Weißer Gips in seinen Haaren.
    Ich starrte das kurze, gekräuselte Gras an, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Soldaten dort gestorben waren, den Kanonendonner; es war so still, so unheimlich leer, und die Mohnblume in meiner Hand pochte wie ein Herz. Sie fotografierten sich gegenseitig vor dem gelbgrauen Himmel. Auf dem Rückweg gab mir die Frau ein Stück Schokolade in Goldfolie.
    Ich konnte immer noch diese Schokolade schmecken, mich an das Rot der Mohnblume in meiner Hand erinnern. Und an den Mann. Etienne. Das Licht fiel durch ein Dachfenster in sein Studio; Glas und wabenartig gemusterter Kaninchendraht. Der Boden war aus grauem Zement. Es gab ein altes graues Sofa, gepolstert mit Zeitungen, und alles war bedeckt mit weißem Staub von dem Gips, aus dem er seine Statuen machte; Gips, mit dem er Drahtgestelle und Lumpen umhüllte. Ich spielte mit einer hölzernen Bildhauerpuppe und stellte sie in Positur, während meine Mutter Etienne Modell stand.
    So viel Weiß. Ihr Körper und der Gips und der Staub; wir waren immer weiß wie die Bäcker. Der alte Heizstrahler, den er neben ihrem Schemel aufgestellt hatte, richtete nicht allzu viel aus, summte nur und roch nach verbranntem Haar. Er ließ französischen Rock laufen. Ich konnte immer noch spüren, wie kalt es war. An einem Haken hatte er ein Skelett hängen, das ich tanzen lassen konnte.
    Sie schickte mich hinunter zum Laden, um eine Flasche Milch zu holen . Une bouteille de lait , sagte ich auf dem Weg vor mich hin. Ich wollte nicht gehen, doch sie hatte mich überredet. Die Milch wurde in Flaschen mit einem Deckel aus leuchtender Folie verkauft. Auf dem Rückweg verlief ich mich. Ich ging im Kreis, war zu ängstlich, um zu weinen, und umklammerte die Milchflasche in der einsetzenden Dämmerung. Schließlich war ich zu müde, um noch weiterzulaufen, und setzte mich auf die Eingangsstufen eines Apartmenthauses, neben den Klingelkasten. Der Kasten war dunkel bis auf die Stellen, an denen Finger auf die Klingeln gedrückt hatten; sie waren hell. Eine Glastür mit einem geschwungenen Türgriff. Der Geruch nach französischen Zigaretten, nach Abgasen. Flanellhosenbeine liefen vorüber, Nylonstrumpfhosen und hohe Absätze, Wollmäntel. Ich hatte Hunger, doch ich hatte Angst, die Milchflasche aufzumachen; Angst, dass sie böse würde.
    Plötzlich sah ich die leeren Fensterhöhlen aus meinem Traum wieder.
    Où est ta maman?, fragten die Nylonstrümpfe, fragten die Hosenbeine. Elle revient , erwiderte ich, doch ich glaubte nicht daran.
    Meine Mutter sprang aus einem Taxi, gekleidet in ihre Afghanenjacke mit der Stickerei und dem lockigen Schaffellbesatz. Sie schrie mich an und zerrte mich von der Treppe hoch. Die Flasche fiel mir aus der Hand. Wie die Milch auf dem Bürgersteig aussah. Leuchtendweiß, mit scharfen kleinen Glasscherben.
    Auf dem Nachhauseweg von der Schule kopierte ich die Fotografie des Schlachtfeldes und schickte sie ihr zusammen mit vier ausgeschnittenen Wörtern, die ich lose in einen Briefumschlag legte:
    BIST WER DU WIRKLICH
    Nach dem Abendessen saß ich auf dem Flickenteppich in meinem Zimmer, schnitt mit dem Papiermesser Schattenspielfiguren aus alten Zeitschriftentiteln aus und klebte sie auf Bambusspieße, die ich vom letzten Essen bei Tiny Thai aufgehoben hatte. Es waren mythische Figuren, halb Tier, halb Mensch – der Affenkönig, der gehörnte Mann, der jedes Jahr geopfert wurde, um die Ernte fruchtbar zu machen, der weise Zentaur Chiron und die kuhköpfige Isis, Medusa und der Minotaurus, der Ziegenbock und die weiße Krähe, die Fuchsdame mit ihrer neuesten Geldschneiderei. Selbst der traurige Dädalus und sein gefiederter Sohn.
    Ich nähte gerade den Arm des Minotaurus an seinen Körper, als es leise an die Tür klopfte. Moschus, der Geruch nach Diebesgut. Sergej lehnte im Türrahmen, in einem frischen weißen Hemd und Jeans, die muskulösen Arme verschränkt; eine goldene Armbanduhr, dick wie eine Schiffsuhr, hing an seinem Handgelenk. Seine Augen glitten durch das Zimmer, nahmen das Durcheinander auf, die Kleiderstapel in den Kartons, meine Tüten voller Skizzenblöcke und fertiger Zeichnungen, die geblümten Vorhänge, die längst zu Pastelltönen verblichen waren. Sein Blick registrierte alles, allerdings nicht so wie der Blick eines Künstlers, der Formen und Schatten sah. Es war der

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