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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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ihn geschlungen hatte. Wie lang ich war, wie weiß.
    Liebe Astrid,
ein Mädchen von der Zeitschrift Contemporary Literature hat mich interviewt. Sie wollte alles über mich wissen. Wir haben stundenlang miteinander geredet; alles, was ich ihr erzählt habe, war gelogen. Wir sind größer als unsere Biographie, mein Schatz. Das solltest du doch am besten wissen. Was ist denn die Biographie des Geistes eigentlich? Du warst die Tochter einer Künstlerin. Du hast Schönheit besessen und die Fähigkeit zum Staunen; du hast Genie mit deinem Apfelbrei gelöffelt, mit deinen Gutenachtküssen eingesogen. Dann hattest du einen Plastikjesus und einen mittelalten Liebhaber mit sieben Fingern; du wurdest als Geisel im türkisen Haus gehalten; du warst die umhätschelte Tochter eines Schattens. Jetzt bist du in der Ripple Street, schickst mir Bilder von Toten und fabrizierst schlechte Gedichte aus meinen Worten. Und du willst wissen, wer ich bin? Wer bin ich? Ich bin das, was ich heute sage – und morgen jemand ganz anderes. Du bist zu nostalgisch – du möchtest, dass die Erinnerung dir Geborgenheit gibt und dich tröstet. Die Vergangenheit ist ein alter Langweiler. Von Bedeutung ist nur man selbst und das, was man aus dem schafft, was man gelernt hat.
    Die Fantasie benutzt das, was sie braucht, und rangiert den Rest aus. Du dagegen willst ein Museum errichten. Horte nicht die Vergangenheit, Astrid. Halte nichts in Ehren. Verbrenne sie. Der Künstler ist der Phönix, der verbrennen muss, um aufzusteigen.
    Mutter.
    Ich trennte unsere schmutzige Wäsche im Fletcher-Münz-waschsalon, Buntes von den hellen Sachen, die Kochwäsche von der Feinwäsche. Ich wusch gern Wäsche; ich mochte das Sortieren der Sachen, das Einwerfen der Münzen, den beruhigenden Geruch nach Waschmittel und Trocknern, das Gerumpel der Waschmaschinen, das knallende Geräusch von Baumwolle und Jeansstoff, wenn die Frauen ihre Kleidung und frischen Laken falteten. Kinder spielten mit den Wäschekörben ihrer Mütter, trugen sie auf dem Kopf wie Käfige oder saßen darin wie in Booten. Ich hätte mich auch gern in einen gesetzt und so getan, als wäre ich in einem Segelboot.
    Meine Mutter hasste jegliche Form von Hausarbeit, vor allem diejenigen Dinge, die in der Öffentlichkeit ausgeführt werden mussten. Sie wartete immer, bis all unsere Sachen dreckig waren, und wusch manchmal unsere Unterwäsche im Waschbecken, um den lästigen Gang noch ein paar Tage aufzuschieben. Wenn wir uns schließlich keinen Tag länger drücken konnten, packten wir ganz schnell unsere Wäsche in die Maschinen und gingen dann wieder, ins Kino oder in einen Buchladen. Jedes Mal, wenn wir zurückkamen, fanden wir die tropfnasse Wäsche auf den Maschinen oder den Tischen wieder, wo sie irgendjemand hingeworfen hatte. Es gefiel mir überhaupt nicht, dass die Leute unsere Sachen anfassten. Alle anderen blieben und behielten ihre Wäsche im Auge; warum konnten wir das nicht? »Weil wir nicht sind wie alle anderen«, sagte meine Mutter dann. »Wir sind noch nicht mal im Entferntesten so wie alle anderen.«
    Bis darauf, dass selbst sie schmutzige Wäsche hatte.
    Als die Wäschemassen getrocknet und die Laken wieder zu keimfreier, gesunder Weiße gebleicht waren, fuhr ich in Nikis Pick-up nach Hause; sie lieh ihn mir zu besonderen Gelegenheiten, zum Beispiel, wenn sie zu betrunken war, um selbst zu fahren, oder wenn ich ihre Sachen mitwusch. Ich parkte in der Einfahrt. Auf den Stufen vor Renas Haustür saßen zwei Mädchen, die ich noch nie gesehen hatte. Weiße Mädchen mit frischer Gesichtsfarbe, ohne Make-up. Die eine trug ein altmodisches Blümchenkleid, das sandfarbene Haar hatte sie zu einem Knoten aufgesteckt und ein Stäbchen hindurchgeschoben. Die Dunklere trug Jeans und einen rosa Rollkragenpulli aus Baumwolle. Schwarze, quietschsaubere schulterlange Haare. Ihre kleinen Brustwarzen stießen gegen den rosa Baumwollstoff.
    Das Mädchen mit dem Blümchenkleid stand auf, blinzelte in die Sonne; ihre Augen hatten dasselbe Grau wie ihr Kleid. Sommersprossen. Sie lächelte unsicher, als ich aus dem Pick-up stieg. »Bist du Astrid Magnussen?«, fragte sie.
    Ich zerrte einen Müllsack voll gefalteter Klamotten vom Beifahrersitz, hob einen weiteren von der Rückbank. »Wer will das wissen?«
    »Ich heiße Hannah«, sagte sie. »Das ist Julie.«
    Das andere Mädchen lächelte ebenfalls, jedoch nicht ganz so offenherzig.
    Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie gingen bestimmt nicht auf die

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