Weisser Oleander
Marshall High, und für Sozialarbeiterinnen waren sie zu jung. »Ja, und?«
Hannah, die Wangen vor Verlegenheit gerötet, blickte die dunkelhaarige Julie um Unterstützung heischend an. Plötzlich wurde mir bewusst, wie ich auf sie wirken musste. Hart, ein Mädchen von der Straße. Mein Lidstrich, mein schwarzes Polyester-T-Shirt, meine schweren schwarzen Stiefel, die Kaskade von Silberringen, die ich im Ohr trug, von fingernagelgroß bis zum Durchmesser eines Softballs. Niki und Yvonne hatten meine Ohren eines Tages gepierct, als sie Langeweile hatten. Ich ließ sie machen. Es gefiel ihnen, mich zu formen. Und ich hatte mittlerweile gelernt, dass es egal war, was man mir an die Ohrläppchen hängte oder auf den Rücken lud; ich war unauflöslich wie Sand in Wasser. Man konnte mich ruhig umrühren, ich würde immer wieder auf den Boden zurücksinken.
»Wir sind nur vorbeigekommen, um dich mal kennen zu lernen. Weißt du, um zu sehen, ob wir vielleicht irgendwas für dich tun können«, sagte Hannah.
»Wir kennen deine Mutter«, sagte Julie. Sie hatte eine tiefere Stimme, ruhiger. »Wir besuchen sie immer in Corona.«
Ihre Kinder. Ihre neuen Kinder. So rein und unbefleckt wie Schneeglöckchen. Strahlend und neu geboren. Amnesisch. Ich war inzwischen bald sechs Jahre in Pflege gewesen, ich hatte gehungert, geweint, gebettelt, mein Körper war ein Schlachtfeld, meine Seele vernarbt und mit Trichtern durchzogen wie eine belagerte Stadt, und nun wurde ich durch etwas Unverstümmeltes, Intaktes ersetzt?
»Wir gehen aufs Pitzer College in Pomona. Wir haben sie in Women’s Studies durchgenommen. Wir besuchen sie jede Woche. Sie weiß so viel über alles Mögliche, sie ist einfach unglaublich! Jedes Mal, wenn wir sie besuchen, sind wir total platt, was sie alles weiß.«
Was dachte sich meine Mutter bloß dabei, diese College-Studentinnen zu schicken? Wollte sie mich zu Talkum mahlen, zu Mehl für irgendeinen bitteren Brotteig? War das die äußerste Strafe für meine Weigerung zu vergessen? »Was will sie von mir?«
»O nein«, sagte Hannah. »Nicht sie hat uns geschickt. Wir sind von allein gekommen. Aber wir haben ihr erzählt, dass wir dir eine Kopie von dem Interview schicken, du weißt schon?« Sie hielt eine Zeitschrift hoch, die sie vorher in ihrer Hand zusammengerollt hatte, und wurde knallrot. Irgendwie beneidete ich sie um dieses Erröten. Ich wurde nicht mehr so schnell rot. Ich fühlte mich alt, bis zur Unkenntlichkeit zerkaut wie ein Schuh, den man einem Hund gegeben hatte. »Und dann dachten wir, du weißt schon … Jetzt, wo wir doch wissen, wo du wohnst …, da dachten wir, wir könnten …« Sie lächelte hilflos.
»Wir dachten, wir könnten mal schauen, ob wir dir nicht was helfen können oder so«, sagte Julie.
Ich sah, dass ich ihnen Angst machte. Sie hatten gedacht, die Tochter meiner Mutter wäre anders, mehr wie sie selbst. Freundlich, offen. Das war ein echter Brüller: Meine Mutter machte ihnen keine Angst, aber ich.
»Und das ist es?«, fragte ich und streckte meine Hand nach der Zeitschrift aus.
Hannah versuchte, auf ihrem geblümten Knie die Wellen aus der Zeitschrift zu streichen. Das Gesicht meiner Mutter auf dem Titelbild, hinter Maschendraht; am Telefon hinter der verglasten Trennwand des Besprechungszimmers. Sie musste irgendetwas angestellt haben, normalerweise empfingen die Häftlinge ihre Besucher an den Picknicktischen. Sie sah schön aus, lächelte, ihre Zähne immer noch vollkommen, die einzige Lebenslängliche in Frontera mit perfektem Gebiss, doch ihre Augen sahen müde aus. Contemporary Literature.
Ich setzte mich neben Julie auf die gesplitterte Treppe. Hannah setzte sich eine Stufe tiefer; ihr Kleid wallte um sie herum wie bei einem Tanzschritt Isadora Duncans. Ich schlug den Artikel auf und blätterte ihn durch. Die Gesten meiner Mutter, die Handfläche gegen die Stirn gestützt, den Ellbogen auf das Sims. Den Kopf gegen das Fenster gelehnt, die Augen niedergeschlagen. Wir sind größer als unsere Biographie. »Worüber sprecht ihr mit ihr?«, fragte ich.
»Über Lyrik.« Hannah zuckte mit den Schultern. »Was wir gerade lesen. Über Musik, über alles Mögliche. Manchmal spricht sie über etwas, was sie in den Nachrichten gesehen hat. Sachen, die wir einfach übersehen würden, aber sie sieht sie auf eine ganz neue Weise, die einfach unglaublich ist.«
Die Umwandlung der Welt.
»Sie spricht von dir«, sagte Julie.
Das war eine Überraschung. »Was erzählt sie
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