Weisser Oleander
denn über mich?«
»Dass du in …, du weißt schon … Dass du in Pflege bist. Ihr tut es schrecklich Leid, was passiert ist«, sagte Hannah. »Vor allem für dich.«
Ich sah diese Mädchen an, College-Studentinnen mit frischen Gesichtern ohne Make-up; vertrauensselig, besorgt. Und ich fühlte die Kluft zwischen uns; all das, was ich nie sein würde, weil ich war, wie ich war. Ich würde in zwei Monaten mit der Schule fertig sein, doch ich würde nicht aufs Pitzer College gehen, so viel war sicher. Ich war das alte Kind; die Vergangenheit, die verbrannt werden musste, damit meine Mutter, der Phönix, wieder auferstehen konnte; ein goldener Vogel, der sich aus der Asche erhob. Ich versuchte meine Mutter durch ihre Augen zu sehen. Die schöne, gefangene Dichterseele, das leidende Genie. Litt meine Mutter? Ich zwang mich, es mir vorzustellen. Sie hatte sicherlich gelitten, als Barry sie aus seinem Haus warf, nachdem er mit ihr geschlafen hatte. Doch als sie ihn getötet hatte, war ihr Leiden irgendwie wettgemacht worden. Litt sie jetzt? Ich hätte es wirklich nicht sagen können.
»Also habt ihr euch gedacht, ihr könntet hierherkommen – und was dann?«, fragte ich. »Mich adoptieren?«
Ich lachte, aber sie lachten nicht. Ich war zu hart geworden; vielleicht war ich meiner Mutter ähnlicher, als ich glaubte.
Julie warf Hannah einen »Ich hab’s dir doch gleich gesagt«-Blick zu. Der Besuch war ganz offensichtlich die Idee des Mädchens mit den sandfarbenen Haaren gewesen. »Ja, so ähnlich. Wenn du es gewollt hättest.«
Ihre Ehrlichkeit war so unerwartet, ihr Mitgefühl so fehl am Platz. »Ihr glaubt wohl nicht, dass sie ihn umgebracht hat, was?«, stellte ich fest.
Hannah schüttelte schnell den Kopf. »Es ist alles ein schrecklicher Irrtum gewesen. Ein Albtraum. Sie spricht darüber auch in dem Interview.«
Das konnte ich mir vorstellen. Vor Publikum war sie immer schon zu ihrer Höchstform aufgelaufen. »Ihr solltet etwas wissen«, sagte ich zu ihr. »Sie hat ihn sehr wohl umgebracht.«
Hannah starrte mich an. Julies Blick flüchtete zu ihrer Freundin. Sie waren schockiert. Julie rückte schützend näher zu ihrer hauchdünnen Freundin, und ich kam mir plötzlich grausam vor, so als hätte ich ein paar kleinen Kindern erzählt, dass es keine Zahnfee gab, dass es bloß ihre Mutter war, die in ihr Zimmer schlich, wenn sie eingeschlafen waren. Doch sie waren keine kleinen Kinder, sie waren erwachsene Frauen und bewunderten rückhaltlos jemanden, über den sie nicht das Geringste wussten. Seht ein einziges Mal dem hässlichen alten Weib Wahrheit in die Augen, ihr College-Mädchen.
»Das ist nicht wahr«, sagte Hannah. Schüttelte den Kopf, schüttelte ihn noch mal, so als könne sie dadurch meine Worte vertreiben. »Es stimmt nicht.« Sie flehte mich an, ihr doch zu sagen, dass es nicht stimmte.
»Ich war dabei«, erzählte ich ihr. »Ich habe gesehen, wie sie die Medizin zusammengemischt hat. Sie ist nicht so, wie sie scheint.«
»Trotzdem ist sie eine großartige Lyrikerin«, sagte Julie.
»Ja«, sagte ich. »Eine Mörderin und eine Lyrikerin.«
Hannah spielte an einem Knopf auf der Vorderseite ihres grauen Kleides herum. Plötzlich riss er ab, und sie hielt ihn in der Hand. Sie starrte den Knopf auf ihrer Handfläche an, ihr Gesicht war so rot gefleckt wie Borschtsch mit roten Beten. »Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Vielleicht hat er sie geschlagen.«
»Er hat sie nicht geschlagen«, sagte ich. Ich legte meine Hände auf die Knie und drückte mich mühsam in den Stand hoch. Ich fühlte mich plötzlich sehr müde. Vielleicht hatte Niki noch eine Notration Dope in ihrem Zimmer.
Julie blickte mit ernsten braunen Augen zu mir auf. Ich hätte sie für vernünftiger gehalten als Hannah, weniger anfällig für den Zauber meiner Mutter. »Wieso hat sie es dann gemacht?«
»Wieso bringen Leute jemanden um, der sie verlässt?«, sagte ich. »Weil sie verletzt und wütend sind und dieses Gefühl nicht aushalten können.«
»Ich hab mich auch schon so gefühlt«, sagte Hannah. Das Licht der tief stehenden Sonne berührte die Locken, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatten, und ließ einen krausen Heiligenschein um ihren hellen Kopf entstehen.
»Aber du hast niemanden umgebracht«, sagte ich.
»Ich wollte es.«
Ich betrachtete sie, wie sie den Saum ihres altmodischen Blümchenkleides hin und her drehte; das Vorderteil klaffte an der Stelle auf, wo der Knopf abgegangen war, darunter sah man ihren
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