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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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war übel, meine Haut brannte. In meinem Mund war ein metallischer Geschmack, als hätte ich Alufolie gekaut. Auf der Straße bemerkte ich einen toten Vogel, plattgefahren, umgeben von seinem weichen Gefieder.
    Ich hatte Angst, Niki zu sagen, dass ich mich fürchtete; ich dachte, ich würde zu schreien anfangen, wenn ich es aussprach. Vielleicht würde ich nicht mehr aufhören können.
    Die ganze Welt war auf einen leblosen Müllhaufen reduziert. Und auch wir gehörten zum Schrott der Stadt wie der Vogel, die herrenlosen Einkaufswagen und das Autowrack. Ich konnte das Summen der Hochspannungsleitungen spüren, die heimtückische Strahlung, die unsere Zellen mutieren ließ. Niemand kümmerte sich um die Leute hier unten. Wir waren am Ende der Zivilisation angelangt, dort, wo sie aus Überalterung und Erschöpfung aufgegeben hatte. Und wir waren das, was übrig geblieben war, Niki und ich, wie Kakerlaken, die nach dem Ende der Welt durch die Ruinen krabbelten und um Leichenreste kämpften. Wie in dem Traum, in dem das Gesicht meiner Mutter zerschmolz. Ich traute mich nicht zu fragen, ob mein Gesicht auseinander floss. Ich wollte Niki nicht darauf aufmerksam machen.
    »Bist du okay?« Niki hatte ein Haarbüschel in meinem Nacken ergriffen und zog vorsichtig daran.
    Ich schüttelte den Kopf, unaufhörlich, in alle Unendlichkeit; ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich ihn tatsächlich bewegt oder es nur gedacht hatte. Ich hatte Angst, mehr zu sagen.
    »Keine Sorge«, sagte sie, »du kommst grade erst richtig drauf.«
    Sie verwandelte sich in einen Schachtelteufel, in eine Ragge-dy-Ann-Puppe. Ich musste mich an der Tatsache festhalten, dass ich sie kannte; dass meine Wahrnehmung mir nur einen Streich spielte. Das ist Niki, sagte ich mir immer wieder. Ich kenne sie. Niki, die mit sechs Jahren von ihrer Mutter in einem Thrifty Drugstore in Alhambra ausgesetzt worden ist, die immer alles abschätzt und unsere Anteile ausrechnet. Ich beobachtete sie gern, wenn sie sich für die Arbeit fertig machte; ihr gestärktes bayrisches Kellnerinnendirndl anzog, in dem sie aussah wie Heidi in einem Warhol-Film. Selbst wenn ich sie nicht mehr erkannte, kannte ich sie doch. Daran musste ich mich klammern.
    Ich schwitzte, brach auseinander wie das jahrzehntealte Pflaster in der verschmierten Linoleumsonne.
    »Können wir hier weg?«, flüsterte ich, zitternd vor Ekel und Übelkeit. »Ich hasse das hier. Wirklich.«
    »Sag mir nur, wohin«, sagte sie. Ihre Augen sahen seltsam aus, schwarz und knopfartig wie die einer Puppe.
    In der kühlen Ruhe der Impressionisten-Sammlung im County Art Museum stellte sich die Welt wieder für mich her, in all ihrer Farbe, ihrem Licht und ihren Formen. Wie hatte ich das vergessen können? Hier konnte mir nichts passieren. Hier war der Hafen, der letzte Posten der wahren Welt, an dem es noch immer Kunst, Schönheit und Erinnerung gab. Wie oft war ich hier mit Claire durchgegangen, mit meiner Mutter. Niki war noch nie hier gewesen. Wir beide gingen an Fischerbooten vorbei, die vor Anker schaukelten, an lumineszierenden zitronengold und rosarot getönten Himmeln, an Lichtspiegelungen auf einer nassen Straße.
    Wir blieben vor einem Gemälde stehen, auf dem eine Frau in einem schattigen Park ein Buch las. Ihr weißes, blau eingefasstes Leinenkleid raschelte, wenn sie die Seiten umblätterte. Ein köstliches Blaugrün; das Bild roch nach Minze; Gras, so hoch wie Farn. Ich konnte uns auf dem Bild sehen, Niki in wallendem Weiß, ich in gepunktetem Musselin. Wir schlenderten zu der Frau hinüber, die darauf wartete, uns Tee einzuschenken. Ich war im Museum, aber gleichzeitig lief ich durch das feuchte Gras, befleckte den Saum meines Kleides mit dem Grün; ein Windhauch fuhr durch den dünnen Stoff.
    Das Acid kam in Wellen, die Wucht der Droge ließ uns hin und her schaukeln, während wir vor den Bildern standen. Doch ich hatte keine Angst mehr. Ich wusste, wo ich war. Ich war mit Niki in der wahren Welt.
    »Das ist superspitzengeil«, flüsterte sie und hielt meine Hand fest.
    Manche Bilder öffneten sich wie Fenster, wie Türen, während andere bloß bemalte Leinwand blieben. Ich konnte nach Cézannes Pfirsichen und Kirschen auf dem schweren, zerknautschten Tischtuch greifen, einen Pfirsich in die Hand nehmen und ihn wieder auf den Teller zurücklegen. Ich verstand Cézanne. »Schau mal, du kannst die Kirschen von oben, aber die Pfirsiche von der Seite sehen«, sagte ich.
    »Sie sehen aus wie Kirschbomben«,

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