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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Ich verstand es trotzdem nie. Jetzt standen Niki und ich davor, an genau der Stelle, an der ich immer gestanden hatte, als ich jünger gewesen war. Wir sahen die drei Farbzonen pulsieren, sahen andere Töne entstehen, Tomatenrot, Granatrot, Violett. Das Rot trat hervor, das Blau zog sich zurück, genau wie Kandinsky gesagt hatte. Eine Tür öffnete sich, und wir traten ein.
    Verlust. Das war hinter der Tür. Leid, Schmerz, wortlos und unbegreiflich. Nicht so, wie ich mich an diesem Morgen gefühlt hatte, septisch, in Panik. Das hier war destillierter Schmerz. Niki legte mir den Arm um die Hüfte, ich legte meinen Arm um sie. Wir standen da und trauerten. Ich konnte mir vorstellen, wie Jesus sich gefühlt hatte, sein Leiden für die ganze Menschheit; wie unmöglich es war, wie bewundernswert. Das Bild war Casals, ein Requiem. Meine Mutter und ich, Niki und Yvonne, Paul und Davey und Claire, wir alle. Wie unermesslich war die Fähigkeit der Menschen zu leiden. Man konnte dem nur ehrfürchtig gegenüberstehen. Es war überhaupt keine Frage des Überlebens. Es war eine Frage der Fülle; wie viel man aushalten konnte, wie viel es einem ausmachte.
    Wir traten nach draußen in die Sonne, ernst, wie Leute nach einer Beerdigung.
    Ich nahm Niki mit in die ständige Ausstellung. Ich musste jetzt die Göttinnen sehen. In der Indischen Sammlung lebte der Rest der alten Gleichung. Vollentwickelte Statuen, die tanzten, sich liebten, schliefen, auf Lotusblüten saßen, die Hände in ihren charakteristischen Mudras erhoben. Shiva tanzte in seinem bronzenen Feuerrahmen. Im Hintergrund wurde leise indische Raga-Musik gespielt. Wir fanden einen steinernen Boddhisattva mit seinem Schnurrbart und feinen Edelsteinen. Er war hinter der Tür gewesen, die Rothko gemalt hatte, und trug beides in sich, diese Erfahrung und den Tanz. Er war auf der anderen Seite herausgekommen. Wir saßen auf der Bank und ließen sein Herz in uns ein. Andere Leute kamen vorbei, blieben aber nicht lange. Ihre Augen huschten über uns hinweg, und sie gingen weiter. Sie bedeuteten uns so viel wie Fliegen einem Stein. Wir konnten sie noch nicht einmal sehen.
    Wir brauchten lange, um wieder herunterzukommen. Eine Zeit lang setzten wir uns zu Yvonne vor den Fernseher, doch es kam uns völlig unverständlich vor. Das Zimmer wirbelte vor Farbe und Bewegung, und sie starrte winzige Köpfe in einem Kasten an. Die Lampen waren viel interessanter. Ich malte die vollkommenen sechsseitigen Schneeflocken, die die Luft erfüllten. Ich konnte sie herabfallen und wieder aufsteigen lassen. Sergej kam ins Zimmer, er sah genauso aus wie der weiße Kater, der ihm folgte. Er erzählte irgendetwas, doch seine Seele war ein Goldfischglas. Hosen und Röcke.
    Plötzlich konnte ich es in unserem vollgerümpelten, hässlichen Haus nicht mehr aushalten, bei Sergej und seinem Goldfisch, dessen Mund sich dümmlich öffnete und schloss. Ich nahm Papier und Wasserfarben mit auf die Veranda und malte: nasse Striche auf nassen Grund, Streifen, die zu Blake-Gestalten in der aufgehenden Sonne und zu Tänzern unter dem Meeresspiegel wurden. Niki kam nach draußen, rauchte und betrachtete die Ringe, die die Straßenlaternen umgaben. Später teilten Rena und Natalia ihren Stoli mit uns, doch es löste gar nichts weiter aus. Rena war die Fuchsfrau und Natalia ein Araberpferd mit einem Schüsselgesicht. Sie sprachen Russisch, und wir verstanden jedes Wort, das sie sagten.
    Gegen drei Uhr früh hatte ich die Nase voll von Schneeflocken und atmenden Wänden. Mach Pipi für Annie. Der Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Zuerst dachte ich ja, dass es in Wirklichkeit vielleicht »Mach Pipi für Mami« heißen sollte, doch was ich in meinem Kopf hörte, war immer das Gleiche: Mach Pipi für Annie. Wer war Annie, und warum sollte ich für sie Pipi machen? Ich zitterte, mit den Nerven am Ende, während Yvonne schlafend auf ihren Brandungswellen lag und die Schneeflocken in unser Zimmer fielen. Annie, wer bist du, und wo ist Mami? Gelb war alles, was ich vor mir sah, gelbes Sonnenlicht und ein weißer Schwan, ein warmer Geruch nach Wäsche.
    Am nächsten Morgen schnitt ich aus der Witzseite der Zeitung die Worte aus:
    WER IST ANNIE

29

    Wie versprochen begleitete ich Yvonne zu ihrem Geburtsvorbereitungskurs ins Waite Memorial Hospital. Ich hielt ihre Tennisbälle, ihr Handtuch. Ich konnte die ganze Sache nicht so richtig ernst nehmen. Ich weiß nicht, ob es noch die Nachwirkungen vom Acid waren, doch alles kam

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