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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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herumlaufen, ehe ich einundzwanzig war.
    Reverend Thomas hätte das Gefühl kaum gutgeheißen, das mich jetzt erfüllte, doch es war unwiderstehlich süß. Ich hielt ihr das eigene Messer an die Kehle. Ich konnte sie um etwas bitten, ich konnte Forderungen stellen. Was springt für mich dabei heraus, hatte ich in meiner Zeit bei Rena zu fragen gelernt, ohne Reue und falsche Bescheidenheit. Was ist mein Anteil? Ich konnte ein Preisschild auf meine Seele kleben. Jetzt musste ich nur noch abschätzen, zu welchem Preis ich sie verkaufen konnte.
    »Okay«, sagte ich. »Organisieren Sie das Treffen.«
    Susan zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und warf sie aus dem Fenster, dann ließ sie die Scheibe wieder hochfahren. Jetzt war sie ganz Geschäftsfrau. »Irgendetwas, das du in der Zwischenzeit möchtest, etwas Taschengeld vielleicht?«
    Ich hasste diese Frau. Was ich in den letzten sechs Jahren durchgemacht hatte, interessierte sie gar nicht. Ich war bloß ein weiterer Stein in dem Mauerwerk, das sie errichtete. Ich war gerade an die richtige Stelle gerutscht. Sie glaubte nicht an die Unschuld meiner Mutter. Ihr waren bloß die Kameras vor dem Eingang des Gerichtsgebäudes wichtig. Und ihr Name, Susan D. Valeris, unter ihren sich auf und ab bewegenden roten Lippen. Diese Publicity würde einiges wert sein.
    »Ich nehme ein paar Hundert«, sagte ich.
    Im letzten Licht des Nachmittags ging ich am Fluss entlang, die Hände in die Taschen gesteckt. Im Osten leuchtete der Mount Baldy rosa im reflektierenden Sonnenlicht. Susans Geld hielt ich zusammengeknüllt in der Faust. Ich schlenderte in Richtung Norden, vorbei an der Baufirma und den Laderampen der Brotfabrik, dem bemalten Zaun des Bildhauers am Ende der Clear-water Street, der ein kleines französisches Dorf als Trompe l’œil zeigte. Ein Hund sprang bellend und knurrend von innen dagegen, und die breiten Holzbretter wackelten. Auf der anderen Seite des Zauns, hinter dem Stacheldraht, wippten Bronzefiguren in großen Metallreifen wie Shiva und drehten sich langsam im Wind. Ich fand ein Stück losen Beton, der aus der Eindämmung gebrochen war, und warf es in den Fluss. Es fiel zwischen die Weiden, und ein Wirbel schwirrender Vögel erhob sich aus der Deckung, braune Watvögel. Wieder passierte es. Wieder wurde ich in ihre Welt zurückgezogen, in ihren Schatten, gerade als ich begonnen hatte, mich frei zu fühlen.
    Ich hustete den trockenen, stoßweisen Husten, den ich schon das ganze Frühjahr lang hatte, vom Pot-Rauchen und dem ewigen Schimmel in Renas Haus. Ich lief die Böschung hinunter ans Wasser, hockte mich hin und berührte die Strömung mit den Fingerspitzen. Kalt, wirklich. Wasser aus den Bergen. Ich tupfte es mir zwischen die Augen, an die Stelle des dritten Auges. Hilf mir, Fluss.
    Und was wäre, wenn sie herauskäme? Wenn sie zum Haus in der Ripple Street gelaufen käme, wenn sie sagte: »Ich bin wieder da. Pack zusammen, Astrid, wir verschwinden.« Könnte ich ihr widerstehen? Ich stellte sie mir vor, in dem weißen T-Shirt und den Jeans, die sie sich anziehen durfte, als sie sie verhafteten. »Lass uns gehen«, sagte sie. Ich sah uns auf der Veranda vor Renas Tür stehen, einander anstarren – aber mehr nicht.
    War sie immer noch in meinen Knochen, in jedem meiner Gedanken?
    Ich hockte am Wasser, während es über das Felsgeröll floss, und dachte daran, welchen weiten Weg die Steine zurückgelegt haben mussten, ehe sie sich in diesem Betonkanal absetzten. Klarer, wohlklingender Strom, Geruch nach frischem Wasser. Ich wollte nicht länger an meine Mutter denken. Es machte mich müde. Ich wollte mir lieber vorstellen, wie die Weiden, die Pappeln und die Palmen sich ihren Weg durch den Beton brachen, direkt aus dem Entlastungskanal für Regenwasser wuchsen; wie der Fluss kämpfte, um sich wiederherzustellen. Ein bisschen Schlamm wurde die Strömung heruntergetragen, setzte sich am Grund ab. Ein Samenkorn fiel hinein und keimte. Kleine Wurzeln schossen nach unten. Und kurz darauf hatte man schon Bäume, Sträucher und Vögel.
    Meine Mutter hatte mal ein Gedicht über Flüsse geschrieben. Sie sind Frauen, schrieb sie. Beginnen als kleine Mädchen, schmale Bäche, mit Wildblumen geschmückt. Dann sind sie reißende Ströme, die sich ihren Weg durch puren Granit meißeln, sich über Felsvorsprünge stürzen, furchtlos und unwiderstehlich. Später werden sie fett und dienstbar, breite, gemächliche Biegungen, die Handelsschiffe und Abwässer tragen, doch in

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