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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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lassen.«

30

    Die Geburtshilfestation des Waite Memorial Hospital erinnerte mich an all die Schulen, auf die ich je gegangen war. Rauputzwände in der Farbe von alten Zähnen, Schließfächer auf dem Flur, dunkelbraune und hellbraune Linoleumböden, faserige Hartschaumdämmplatten an der Decke. Nur das Geschrei, das man auf den Fluren hörte, war anders. Es machte mir Angst. Hier gehöre ich nicht hin, dachte ich, während ich Yvonne den Flur entlang folgte. Ich sollte jetzt eigentlich in die dritte Stunde gehen und, sicher hinter meinen Buchdeckeln verborgen, irgendetwas Abgehobenes, Theoretisches lernen. Im Leben dagegen konnte alles Mögliche passieren.
    Ich hatte all die Sachen mitgebracht, die wir im Geburtsvorbereitungskurs benutzt hatten, die Tennisbälle, die zusammengerollten Handtücher, die Armbanduhr, doch Yvonne wollte nicht richtig mitmachen, weder hecheln noch zählen, noch auf den Tennisbällen liegen. Sie wollte nur an dem weißen Frottiertuch lutschen, ich sollte ihr das Gesicht mit Eis abwischen und ihr etwas mit meiner unmelodischen Stimme vorsingen. Ich sang Lieder aus den Musicals, die ich mir immer mit Michael angesehen hatte – aus »Camelot« und »My Fair Lady«. Ich sang ihr »Oh Shenandoah, I long to hear you« vor, das Claire einmal am Ufer des McKenzie gesungen hatte. Während überall um uns herum hinter den Vorhängen Frauen in ihren schmalen Entbindungsbetten schrien, fluchten, stöhnten und in zehn verschiedenen Sprachen nach ihren Müttern riefen. Es hörte sich an wie in den Folterkammern der Inquisition.
    Rena war nicht lange geblieben. Sie hatte uns hingefahren, beim Krankenhaus abgesetzt und die Papiere unterschrieben. Immer, wenn ich gerade anfing, sie zu mögen, passierte so etwas.
    »Mama«, wimmerte Yvonne, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie drückte meinen Arm, als eine weitere Wehe kam. Wir waren seit neun Stunden da und hatten zwei Schichtwechsel der Krankenschwestern erlebt. Mein Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter voller blauer Flecken. »Lass mich nicht allein«, sagte sie.
    »Ich lass dich nicht allein.« Ich fütterte sie mit ein paar Eisstückchen, die sie lutschen durfte. Sie ließen sie nichts trinken, falls sie doch eine Betäubung bekommen musste. Sie wollten verhindern, dass sie dann in die Narkosemaske kotzte. Aber sie kotzte auch so. Ich hielt ihr die kleine, nierenförmige Plastikschale unter das Kinn. Das grelle Licht der Leuchtstofflampen schien anklagend auf uns herunter.
    Die Krankenschwester schaute auf den Wehenschreiber und prüfte mit dem Finger, wie weit sich Yvonnes Muttermund geöffnet hatte. Es waren immer noch acht Zentimeter. Zehn war die volle Ausdehnung, und sie sagten uns wieder und wieder, dass sie bis dahin nicht viel tun konnten. Jetzt war die Übergangsphase, wie sie es nannten, die schlimmste Phase. Yvonne trug ein weißes T-Shirt und grüne Kniestrümpfe, ihr Gesicht war gelb und glitschig vor Schweiß, ihr Haar strähnig und zerzaust. Ich wischte ihr das zähflüssige Erbrochene von den Lippen ab.
    »Sing mir was vor«, sagte Yvonne durch ihre aufgesprungenen Lippen.
    »If ever I should leave you«, sang ich in ihre Ohrmuschel, die in voller Länge mit Ohrsteckern eingerahmt war. »It wouldn’t be in summer …«
    Yvonne sah in dem kleinen Bett riesig aus. Das CTG -Gerät mit dem Wehenschreiber war an ihrem Bauch festgeschnallt, doch ich wollte nicht auf den Monitor sehen. Ich sah ihr Gesicht an. Sie erinnerte mich an ein Gemälde von Francis Bacon; machmal verschwamm jegliche Ähnlichkeit mit irgendetwas Menschlichem, dann wieder kämpfte sie, um sich nicht völlig in der undifferenzierten Welt des Schmerzes aufzulösen. Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht und flocht es wieder zu Zöpfen.
    Die Tapferkeit der Frauen, dachte ich, während ich mich von unten nach oben durch ihr Haar arbeitete und die schwarze Masse entwirrte. Ich könnte das nie durchstehen. Der Schmerz kam in Wellen, in Schichten, begann in ihrem Bauch und erstreckte sich dann in alle Richtungen, eine Blume des Schmerzes, die durch ihren ganzen Körper wuchs, eine gezackte Lotusblüte aus Stahl.
    Ich musste dauernd an den menschlichen Körper denken, daran, was für eine unleugbare Tatsache er doch war. Dieser Philosoph, der gesagt hatte: »Ich denke, also bin ich«, hätte mal eine Stunde auf der Entbindungsstation des Waite Memorial Hospital verbringen sollen. Er hätte seine ganze Philosophie neu schreiben müssen.
    Der Geist war so

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