Weisser Oleander
den Tiefen ihres Unterbewusstseins gründeln gierige Welse, wachsen zur Größe von Schleppkähnen heran, und in den Jahrhundertstürmen erheben sie sich, vergessen all die Versprechungen, die sie gemacht haben, vergessen ihre Ehegelübde und ertränken alles weit und breit. Schließlich geben sie auf, gehen geburtenleer und malariaträchtig in ein sumpfiges Schwemmdelta über, das ins Meer führt.
Doch dieser Fluss war nichts davon. Er floss gelassen und unbeachtet vorbei an Zäunen, auf die jemand »18 th Street«, »Roscos«, »Frogtown« gesprüht hatte, lebendig trotz allem und die Geheimnisse des Überlebens bewahrend. Dieser Fluss war ein Mädchen wie ich.
Ein provisorisches Zelt kauerte auf einer kleinen Insel inmitten des Miniaturwäldchens, seine blaue Plane hob sich alarmierend von den Grau- und Grüntönen ab. Die Hier-und-Jetzt-Hiltons hatte Barry sie immer genannt. Ich wusste, wem das Zelt gehörte. Einem großen, dünnen Vietnam-Veteranen in khakifarbenem Tarnanzug; ich hatte ihn früh morgens dort gesehen, den dünnen Rauchfaden, der von seinem kleinen, aus einer Kaffeedose gebastelten Kocher aufstieg. Ich hatte ihn vor dem spanischen Markt auf dem Glendale Boulevard gesehen, an der mit Brettern vernagelten Seite, wo er in den langen Nachmittagsschatten mit seinen Freunden Poker spielte.
Wilder Senf blühte auf dem rissigen Betonwall, und ich pflückte einen Strauß für Yvonne. Was war eigentlich Unkraut? Eine Pflanze, die niemand gepflanzt hatte? Ein Samen, der aus dem Mantel eines Reisenden entwischt war, ein Kraut, das nicht dazugehörte? War es nicht etwas, das besser wuchs als das, was eigentlich hätte da sein sollen? War es nicht nur ein Wort, Un-Kraut, das sein Urteil nach sich zog. Unnütz. Wertlos. Ungewollt .
Nun, jeder konnte einen grünen Jaguar kaufen oder Schönheit in einem zweitausend Jahre alten japanischen Wandschirm finden. Ich war lieber Kennerin vernachlässigter Flüsse und blühender Senfpflanzen oder betrachtete das schillernde Rosa auf dem holzkohlegrauen Nacken einer Straßentaube. Ich dachte an den Veteranen, der sich sein Abendessen über einer Blechbüchse erwärmte, und an die alte Frau, die ihre Tauben auf der Kreuzung hinter dem Kentucky Fried Chicken fütterte. Und was war mit dem Marienkäfer-Mann, dem Blau seiner Augen über graumeliertem Schwarz? Es gab mich und Yvonne, Niki und Paul Trout, vielleicht sogar Sergej oder Susan D. Valeris, warum nicht? Was waren wir alle schon anderes als eine Hand voll Unkraut? Wer wollte sich anmaßen zu sagen, worin unser Wert bestand? Worin bestand der Wert von vier Vietnam-Veteranen, die jeden Nachmittag vor dem spanischen Markt auf dem Glendale Boulevard mit einem fettigen Kartenspiel pokerten, in dem eine Königin und eine Fünf fehlten? Vielleicht hing die Welt von ihnen ab, vielleicht waren sie die Parzen oder die Grazien? Cézanne hätte sie in Kohle gezeichnet, van Gogh hätte sich selbst mitten unter ihnen gemalt.
Doch in dieser Nacht träumte ich wieder den alten Traum von grauen Pariser Straßen und dem Labyrinth aus Steinen, den zugemauerten blinden Fenstern. Diesmal waren dort Glastüren mit geschwungenen Jugendstil-Griffen, sie waren alle verschlossen. Ich wusste, dass ich meine Mutter finden musste. Es wurde dunkel, finstere Gestalten lauerten in den Kellereingängen. Ich drückte auf alle Klingelknöpfe der Apartments. Frauen, die aussahen wie sie, kamen an die Tür und lächelten; manche riefen sogar meinen Namen. Aber keine von ihnen war sie.
Ich wusste, dass sie dort drinnen war. Ich hämmerte gegen die Tür, schrie, dass sie mich hereinlassen solle. Der Türöffner summte, um mich einzulassen, doch gerade als ich die Tür aufdrückte, sah ich sie das Haus durch die Hoftür verlassen und in ein kleines rotes Auto einsteigen. Sie trug ihre lockige Afghanenjacke und eine große Sonnenbrille vor ihren blinden Augen, sie lehnte sich in den Sitz zurück und lachte. Ich rannte hinter ihr her, weinend und flehend.
Yvonne rüttelte mich wach. Sie legte meinen Kopf in ihren Schoß, und ihr langes braunes Haar umgab uns wie ein Schal. Ihr Bauch war warm und fest wie ein Polster. Durch die Strähnen ihres Haares sah ich die farbigen, kreiselnden Lichtmuster der Kindernachttischlampe, die ich im Sperrmüll ergattert hatte. »Wir kriegen alle schlechten Träume ab, ese «, sagte Yvonne, während sie mir mit der Handfläche über die nasse Wange strich. »Wir sollten noch ein paar für die anderen übrig
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