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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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zu können. Sie war dabei, sich in eine Karikatur ihrer selbst zu verwandeln. Noch nicht ganz; im Augenblick hatte sie lediglich einen hohen Wiedererkennungswert. Doch in fünf bis zehn Jahren würde sie sich nur noch aus der Ferne ähnlich sehen. Von nahem betrachtet, wäre sie abgespannt und ängstlich. »Mal ehrlich, versuchst du nicht bloß, sie dafür zu bestrafen, dass sie eine schlechte Mutter war – und nicht für den angeblichen Mord?« Sie ließ die Scheibe mit dem elektrischen Fensterheber ein Stück herunter, drückte den Zigarettenanzünder an und griff in ihre Tasche nach den Zigaretten. »Was hat Barry Kolker dir denn überhaupt bedeutet? Er war irgendein Freund deiner Mutter. Sie hatte eine ganze Reihe Freunde. Du kannst dir doch gar nicht so viel aus ihm gemacht haben.«
    »Er ist tot«, sagte ich. »Und Sie werfen mir vor, ich sei zynisch?«
    Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund, und der Anzünder sprang heraus. Sie zündete die Zigarette an und füllte das Auto mit Rauch. Sie atmete den Rauch in Richtung des geöffneten Fensterschlitzes aus. »Nein, es ist gar nicht Kolker. Du nimmst ihr übel, dass sie dich im Stich gelassen hat. Das ist nur natürlich. Du hast sechs schwierige Jahre durchgemacht, und wie Kinder nun mal sind, zeigst du jetzt auf die allmächtige Mutter. Alles ihre Schuld. Der Gedanke, dass auch sie ein Opfer ist, kommt dir gar nicht.«
    Draußen vor dem Fenster, im nicht klimatisierten Teil der Wirklichkeit, trabte eine Joggerin mit sehr rotem Gesicht an uns vorbei und zog einen schlappen Setter an der Leine hinter sich her. »Werden Sie das auch sagen, wenn ich in ihrer Gerichtsverhandlung die Wahrheit sage?«
    Wir beobachteten, wie die Joggerin sich den Bürgersteig entlangschleppte, während der Hund versuchte, im Vorbeigehen die Pflanzen zu beschnüffeln. »Etwas in der Art, ja«, erwiderte Susan. Die ersten ehrlichen Worte, seit ich ihre zierliche Hand geschüttelt hatte. Sie seufzte und schnippte die Asche aus dem Fenster. Ein paar Krümelchen kamen wieder zurückgeflogen. Sie strich sie von ihrem Kostüm ab. »Astrid, sie mag vielleicht keine Fernsehmami gewesen sein, keine Barbara Billingsley in Küchenschürze und Perlenkette, aber sie liebt dich. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Gerade jetzt braucht sie dein Vertrauen. Du solltest mal hören, wie sie über dich spricht, wie sie sich Sorgen um dich macht; wie gern sie wieder mit dir zusammen wäre.«
    Ich dachte wieder an meine imaginäre Reise mit ihr; daran, wie sie aussah; an die Magie ihrer Worte. Inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher, vielleicht sagte Susan die Wahrheit. Ich hätte diese Frau gern gefragt, was meine Mutter über mich erzählte. Ich hätte gern von ihr gehört, was meine Mutter über mich dachte, doch ich wollte ihr diesen Eröffnungszug nicht überlassen. Schließlich hatte ich meine Taktik von Bobby Fischer gelernt. »Sie würde doch alles sagen, um freizukommen.«
    »Rede mit ihr. Ich kann es organisieren. Hör dir nur einmal an, was sie zu sagen hat, Astrid«, drängte Susan. »Sechs Jahre sind eine lange Zeit. Die Menschen ändern sich.«
    Meine kurzzeitige Unsicherheit schwand dahin. Ich wusste nur zu gut, inwieweit Ingrid Magnussen sich verändert hatte. Ich hatte ihre Briefe. Ich hatte sie gelesen; Seite für Seite war ich durch die roten Fluten geschwommen. Ich wusste alles über ihre Zärtlichkeit und mütterliche Besorgnis. Ich und die weiße Katze. Doch etwas gab es, das sich verändert hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben brauchte meine Mutter etwas von mir, zum ersten Mal hatte ich die Macht, es ihr zu geben oder zurückzuhalten – und nicht andersherum. Ich öffnete die Lüftungsklappe und ließ die kühle Luft aus der Klimaanlage mein Gesicht küssen.
    Meine Mutter brauchte mich. Das schlug ein – was das bedeutete, wie unglaublich das war. Wenn ich in den Zeugenstand trat und aussagte, dass sie es getan hatte, wenn ich von unserer Fahrt nach Tijuana erzählte, von den Mengen an Oleander, Stechapfel und Belladonna, die sie in der Küche eingekocht hatte, dann würde sie nie herauskommen. Und wenn ich log, erzählte, dass Barry paranoid gewesen sei, eine fixe Idee entwickelt habe, dass er verrückt gewesen sei, dass meine Mutter so stark mit Drogen vollgestopft gewesen sei, als ich sie im Sybil-Brand-Gefängnis besuchte, dass sie mich noch nicht einmal erkannt hatte, dann würde sie vielleicht das Wiederaufnahmeverfahren gewinnen und könnte wieder auf der Straße

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