Weisser Oleander
Mann angeschrien und nach ihrer Mutter gerufen. Eine erwachsene Frau, die wie ein Kind schluchzte. Mami … Ich hatte mich für sie geschämt. Inzwischen wusste ich es besser.
Ich hielt Yvonnes Hände fest und dachte daran, wie meine Mutter mich vor siebzehn Jahren zur Welt gebracht hatte. Hatte sie auch nach ihrer Mutter gerufen? Ich stellte mir vor, wie sie meinen Vater anschrie, ihn einen nichtswürdigen, nutzlosen Lügner schimpfte, bis er ein Bier trinken ging und sie an einem kalten Novembermorgen mit der Vermieterin allein ließ. Sie hatte eine Hausgeburt; Ärzte hatte sie noch nie gemocht. Ich konnte mir vorstellen, wie ihr Geschrei und ihre Verwünschungen die friedliche Stille der Seitenstraße in Venice Beach durchbrachen, ein Kind aufschreckten, das auf seinem Skateboard vorbeifuhr, während die Hauswirtin Haschisch rauchte und ihre Geldbörse plünderte. Aber hatte sie auch gerufen: Mami, hilf mir ?
Ich dachte an ihre Mutter, an das einzige Bild, das ich von ihr hatte, das Wenige, was ich von ihr wusste. Karin Thorvald, die vielleicht eine entfernte Verwandte König Olafs von Norwegen gewesen war, vielleicht aber auch nicht, eine Schauspielerin des klassischen Fachs und Säuferin, die Shakespeare rezitierte, während sie die Hühner fütterte, und in einem Viehteich ertrank, als meine Mutter dreizehn war. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie nach irgendjemandem gerufen hatte.
Doch dann ging mir auf, dass sie gar nicht die eigenen Mütter meinten. Nicht diese schwachen Frauen, diese Opfer. Drogenabhängige, Kaufsüchtige, Plätzchenbäckerinnen. Sie meinten nicht die Frauen, die sie im Stich gelassen hatten, die versäumt hatten, ihnen beim Erwachsenwerden zu helfen, Frauen, die ihre Freunde der Reihe nach über sie drüber ließen. Frauen, die auf Sauftouren zogen, und reumütig Sühnende; Frauen, die in Spiegel lächelten, Frauen in Hüfthaltern, Frauen auf Barhockern. Nicht diese Frauen mit ihrem Gejammer und ihren Zeitschriften, herrschsüchtige Frauen; Frauen, die fragten: was springt dabei für mich raus? Nicht die Frauen, die fernsahen, während sie Essen kochten, die sich heimlich hinter verschlossenen Türen das Haar blond färbten und versuchten, wie dreiundzwanzig auszusehen. Sie meinten nicht die Mütter, die Geschirr spülten und sich dabei wünschten, sie hätten nie geheiratet; nicht die, die in der Notaufnahme erzählten, sie seien die Treppe hinuntergefallen, und auch die nicht, die aus dem Gefängnis verkündeten: Einsamkeit ist das Los der Menschheit. Gewöhne dich daran .
Sie sehnten sich nach der echten Mutter, der Blutsmutter, der großen Gebärmutter, der Übermutter, Mutter eines grimmigen Erbarmens; nach einer Frau, groß genug, allen Schmerz in sich aufzunehmen und fortzutragen. Was wir brauchten, war eine Frau, die ihr Blut vergoss, die so tief und reich war wie ein Feld; eine breithüftige Mutter, gewaltig und Furcht einflößend, Frauen wie riesige weiche Sofas; Mütter, in denen kraftvoll das Blut pulsierte; Mütter, groß genug und weit genug, dass wir uns in ihnen verstecken konnten, auf ihren Grund sinken konnten; Mütter, die für uns atmeten, wenn wir nicht mehr atmen konnten, die für uns kämpften, für uns töteten, die für uns sterben würden.
Yvonne setzte sich auf und hielt die Luft an; ihre Augen quollen hervor. Genau das sollte sie nicht tun.
»Atme«, sagte ich ihr ins Ohr. »Bitte, Yvonne, versuch es.«
Sie versuchte zu atmen, holte ein paarmal flach Luft, doch dann tat es zu weh. Sie ließ sich auf das schmale Bett zurückfallen, zu erschöpft, um weiterzumachen. Sie konnte nur noch meine Hand festhalten und weinen. Und ich dachte daran, wie das Baby mit ihr verbunden war, so wie sie mit ihrer Mutter und ihre Mutter wieder mit der ihren und so weiter, bis in alle Ewigkeit, eine Masche verstrickt in die andere, eine unheilvolle Schnur, die sie an diesem Tag in dieses Bett gebracht hatte. Und nicht nur sie. Ich fragte mich, was mein eigenes Erbe sein würde.
»Ich wünschte, ich wäre tot«, sprach Yvonne in den Kissenbezug mit dem Blümchenmuster, den ich von zu Hause mitgebracht hatte.
Das Baby kam vier Stunden später. Ein Mädchen, geboren um 17.32 Uhr. Sternzeichen Zwilling. Wir fuhren am nächsten Tag nach Hause. Rena holte uns am Wendehammer vor dem Krankenhaus ab; sie weigerte sich hineinzugehen. Wir hielten vor der Glasscheibe des Neugeborenenzimmers, doch das Baby war schon weg. Rena wollte nicht, dass Yvonne es auch nur für eine Woche
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