Weisser Oleander
mit nach Hause nahm.
»Besser gleich weggehen«, hatte Rena gesagt. »Wenn du erst anfängst zu mögen, ist Spiel verloren.«
Sie hat Recht, dachte ich, während ich Yvonnes Rollstuhl zum Ausgang schob, obwohl es ihr gar nicht darum ging, Yvonne zu schonen; sie hatte bloß keine Lust, Pflegeoma zu werden. Sie hatte nie Kinder gehabt, nie welche gewollt. Was springt für mich dabei raus? »Babys machen mich ganz krank«, hatte sie immer zu Yvonne gesagt. »Essen, scheißen, heulen. Wenn du denkst, du behältst – dann denk lieber zweimal.«
In der Krankenhausauffahrt sprang Niki aus dem Van, drückte Yvonne ein Bündel Luftballons in die Hand und umarmte sie. Wir halfen ihr auf die Rückbank. Sie war immer noch erschöpft, sie konnte kaum laufen. Sie hatte sich einen Nerv im linken Bein eingeklemmt, und die Stelle, an der der Arzt einen Dammschnitt gemacht hatte, war genäht worden. Sie roch säuerlich, nach altem Blut. Sie sah aus, als sei sie gerade von einem Auto angefahren worden. Rena würdigte sie keines Blickes.
Ich setzte mich zu ihr auf den herausgerissenen Autositz im Laderaum. Yvonne lehnte sich an mich, den Kopf auf meine Schulter gelegt. »Sing ›Michelle‹«, flüsterte sie.
Ich hielt ihre Hand, drückte ihr die andere Hand gegen die Stirn, so wie sie es gern hatte, und sang mit meiner unmelodischen Stimme leise »Michelle, ma belle«, während wir nach Hause rumpelten. Das Lied schien sie zu trösten. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und lutschte schweigend am Daumen.
Die Wochen zogen vorüber, aber es kam kein Anruf von Susan, um mir mitzuteilen, wann ich meine Mutter treffen sollte. Jetzt, wo sie meine Mittäterschaft gewonnen hatte, hörte ich nichts mehr von ihr. Weder im Mai noch im Juni. Ich saß am Flussufer und beobachtete die Silberreiher und braunen Watvögel, die in der Strömung fischten. Auf der Marshall High School fand heute unsere Abschlussfeier statt, doch ich sah keinen Grund hinzugehen. Selbst wenn sie nicht im Gefängnis säße, wäre meine Mutter nie dorthin gekommen. Zeremonien, die sie sich nicht selbst ausgedacht hatte, interessierten sie nicht. Ich wollte den Tag lieber ganz still vorbeiziehen lassen wie eine Frau in mittleren Jahren ihren Geburtstag.
Die Wahrheit war, ich hatte Angst; so viel Angst, dass ich mich nicht traute, es auch nur auszusprechen, so wie an dem Vormittag, als ich das Acid genommen hatte. Es war eine Angst, die ihr Maul öffnen und mich mit Haut und Haaren verschlingen konnte, wie ein Hammerhai in zwei Meter tiefem Wasser. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde. Auf mich warteten weder Yale noch die Kunstakademie, ich würde nirgendwo hingehen. Ich malte Rahmen für Nummernschilder an; ich schlief mit einem Dieb, er sagte mir, dass ich jederzeit zu ihm ziehen könnte. Vielleicht würde ich ja lernen, Schlösser zu knacken oder einen Truck zu stehlen. Wieso sollte meine Mutter ein Monopol auf Verbrechen haben?
Ich saß am Wasser, sah es dahinfließen und die Reiher ihr Gefieder putzen, sah ihre Knopfaugen und dachte daran, was Mr. Delgado uns in unserer letzten Stunde gesagt hatte. Er hatte gesagt, dass wir Geschichte studieren, um herauszufinden, warum die Dinge so sind, wie sie sind; um festzustellen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind. Er hatte gesagt, dass man Leute, die ihre Geschichte nicht kennen, in jeder Hinsicht manipulieren könne. Auf diese Weise funktioniert auch ein totalitäres System.
Wer war ich wirklich? Ich war die einzige Bewohnerin des totalitären Staates meiner Mutter; die Geschichte meiner Person wurde ständig neu geschrieben, damit sie zu der jeweiligen Geschichte passte, die sie gerade erzählte. Es gab so viele fehlende Stücke in diesem Puzzle. Einige von ihnen hatte ich bereits gefunden; ich arbeitete mich langsam flussaufwärts und legte eine geheime Sammlung zerbrochener Erinnerungen in einem Schuhkarton an. Ein Schwan war darunter, ein weißer Holzschwan mit langen schwarzen Nasenlöchern, wie der Schwan auf Claires Duschabtrennung. Ich saß auf dem Schwan und machte Pipi für Annie. Es gab weiße Fliesen auf dem Boden, aus denen ich in Gedanken Figuren bildete, während ich dort saß; Blumen und Häuser. Es waren vollkommene Sechsecke, und sie passten alle aneinander. Dann war da noch ein gelber Küchen-Linoleumboden mit einem Muster aus roten und schwarzen Farbspritzern. Und Wäschekörbe. Das Wäsche-Gefühl, der Geruch nach Trockner. Gelbes Sonnenlicht hinter einem Schnapprollo. Meine
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