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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Finger im runden Griff des Rollozugs.
    Aber wer war Annie? Eine Freundin? Ein Babysitter? Und warum hatte sie mir beigebracht, aufs Töpfchen zu gehen, und nicht meine Mutter? Ich hätte gern gewusst, was hinter dem Schwan und dem gelben Linoleum steckte. Es hatte dort auch andere Kinder gegeben, daran konnte ich mich erinnern; ich hatte sie zur Schule gehen sehen. Und eine Schachtel voller Buntstifte. Hatten wir bei ihr gewohnt, oder hatte sie mich dort zurückgelassen?
    Und Klaus, der Umriss, der mein Vater war. Wir sind größer als unsere Biographie. Was half mir das? Ich wollte wissen, wie sie sich kennen gelernt hatten, sich ineinander verliebt hatten, wieso sie sich getrennt hatten. Ihre gemeinsame Zeit war ein Schlachtfeld voller weißer Steine, über die Schützengräben war Gras gewachsen; ein Krieg, in dem ich alles verloren hatte und keine Möglichkeit hatte, herauszufinden, was passiert war. Ich wollte etwas über die Jahre erfahren, in denen wir herumgereist waren, wollte wissen, weshalb wir nie nach Hause zurückkehren konnten.
    Ich legte mich auf die abschüssige Böschung und blickte in die Höhe. Es war die beste Stelle, um sich den Himmel anzuschauen. Die Betonwälle verdeckten seine stumpfen, verschwommenen Ränder, wo man sonst Smog und Dunst sah, und man sah nur den guten Teil, die Mitte, eine perfekte Schüssel unendlichen Blaus. Ich ließ mich hinauf in dieses Ultramarin fallen. Kein blasser, arktischer Morgen wie die Augen meiner Mutter. Dieses Blau war liebevoll, warm, gütig, ohne Weiß, reine, intensive Farbe, ein Raphael-Himmel. Wenn man den Horizont nicht sah, konnte man beinahe glauben, dass es eine Schüssel war. Ihre Rundung hypnotisierte mich.
    Ich hörte Schritte auf mich zukommen. Es war Yvonne. Ihr schwerer Schritt, lange Haare wie eine weite Wasserfläche. Ich legte mich wieder auf den Rücken. Sie setzte sich neben mich.
    »Leg dich hin, und schau dir diesen tollen Himmel an.«
    Sie legte sich neben mich und faltete die Hände über dem Bauch, wie sie es immer getan hatte, als sie noch schwanger war, obwohl das Baby nicht mehr da war. Sie war still, kleiner als sonst, wie ein schrumpfendes Blatt. Eine Schar Tauben schoss über die satte, gekrümmte Himmelsfläche, ihre Flügel schlugen weiß und grau im Gleichklang wie ein Flaggengruß. Ich fragte mich, ob sie ihr Ziel kannten, wenn sie so flogen.
    Ich drückte ihre Hand. Es war so, als ob ich meine eigene Hand hielt. Ihre aufgeworfenen Lippen waren rissig. Es kam mir vor, als schwebten wir im Himmel, abgeschnitten von Vergangenheit und Zukunft. Reichte das nicht? Ein Schwarm Tauben konnte doch genug sein. Etwas Geschichtsloses. Vielleicht sollte ich meine zerrissene Perlenkette, meine Schuhkartons voller Erinnerungen beiseite legen. Egal wie tief ich grub – ich fand nur eine Geschichte, und das genügte nicht. Warum konnte es nicht einfach ein Reiher sein? Keine Geschichte, nur ein Vogel mit langen dünnen Beinen.
    Wenn ich nur die Zeit anhalten könnte. Den Fluss und den Himmel.
    »Hast du schon mal daran gedacht, dich umzubringen?«, fragte Yvonne.
    »Manche Leute sagen, dass du genau da wieder anfangen musst, wo du aufgehört hast, wenn du wiederkehrst.« Ich nahm Yvonnes Arm in meinen. Ihre Haut war so weich. Ihr T-Shirt roch nach Verzweiflung, wie Metall und Regen.
    »Ich dachte, heute wäre deine Abschlussfeier, ese «, sagte sie.
    »Was soll ich denn da?«, erwiderte ich. »Über die Bühne laufen wie eine Herde Enten am Schießstand?«
    Yvonne seufzte. »Wenn ich du wäre, wäre ich stolz.«
    Ich lächelte. »Wenn du ich wärst, dann wärst du ich. Wer immer das sein mag.«
    Mrs. Luanne Davis hatte mir vorgeschlagen, mich beim City College zu bewerben. Ich könne jederzeit dorthin wechseln, doch ich hatte bereits den Glauben an mich selbst verloren. Ich konnte mir nicht aus meinen gesammelten Bruchstücken allein eine Zukunft schmieden, so wie sich Siegfried in der alten Sage sein Schwert schmiedete. Die Zukunft war ein weißer Nebel, in dem ich unbemerkt verschwinden würde, ohne das Rascheln der blauen und goldenen Schulroben. Keine Mutter, die mir den Weg zeigte.
    Ich stellte mir vor, welche Lügen die Schülerin, die die Abschlussrede hielt, den anderen wohl gerade auftischte. Über die aufregende Zukunft, die noch vor einem liegt . Ich wünschte, sie würde ihnen die Wahrheit sagen. Die Hälfte von euch hat den Höhepunkt ihres Lebens bereits erreicht. Schaut euch um. Von nun an geht’s nur noch bergab. Der Rest

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