Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
chloriert, dick und feindselig wie die Atmosphäre auf einem toten Planeten. Doch im Vorgarten blühte der große Oleander wie ein Hochzeitsstrauß, und der Himmel war voller Feuerwerks-Sterne. Ich musste an meine Mutter denken.
    Von Susan war immer noch kein Anruf gekommen. Schon mehrmals hätte ich sie am liebsten angerufen und ein Treffen verlangt. Doch ich wusste es besser. Das hier war ein Schachspiel. Zuerst die Dringlichkeit, dann das Warten. Ich würde ihr nicht hinterherlaufen und betteln. Ich würde meine Züge planen und meine Verteidigung aufbauen.
    Ich wachte jetzt sehr früh auf, um ein bisschen kühle Luft einzuatmen, ehe die Hitze kam. Ich stand auf der Veranda und betrachtete den riesigen Oleander. Er war alt, sein Stamm war so dick wie der eines Baumes. Man braucht bloß ein Marshmallow auf einem seiner Zweige zu grillen, und schon ist man tot. Sie hatte das Zeug pfundweise eingekocht, um Barrys Totentrank zu brauen. Ich fragte mich, warum dieser Busch so giftig ist. Oleander können alles überstehen; sie können Hitze aushalten, Trockenheit, Vernachlässigung und bringen trotzdem Tausende wächserner Blüten hervor. Wozu brauchen sie also noch das Gift? Können sie nicht einfach nur bitter schmecken? Oleander sind nicht wie Klapperschlangen: Sie fressen das, was sie töten, noch nicht einmal. Wie sie die Pflanze eingekocht hatte, sie destilliert hatte wie ihren Hass. Vielleicht konzentriert die Pflanze ja irgendein Gift aus dem Boden in ihren Fasern, irgendetwas, das typisch für L. A. ist, den Hass, die Abgestumpftheit; etwas, worüber wir lieber nicht nachdenken wollen. Vielleicht ist sie gar nicht die Quelle des Gifts, sondern bloß ein weiteres Opfer.
    Gegen acht wurde es schon zu heiß, um sich draußen aufzuhalten. Ich ging wieder ins Haus, um Tashas Lunch vorzubereiten. Sie war die Neue, die in Yvonnes Bett schlief, dreizehn Jahre alt, und ging auf die King Junior High School. Sie war ernst und still, und auf ihrer Oberlippe verheilte gerade eine frische, senkrechte Narbe. Sie zuckte zusammen, wenn Leute sich ihr zu schnell näherten.
    »Du wirst es schon gutmachen«, sagte ich, während ich ihr Selleriestangen mit Erdnussbutter und einen Granny-Smith-Apfel einpackte. »Ich werde dir zusehen, wenn du reingehst.«
    Ich fuhr sie in Nikis Pick-up und ließ sie vor der Thomas Starr King Junior High School raus, blickte ihr nach, wie sie in das Gebäude ging, klein und verängstigt, mit einem dicken Schlüsselbund an ihrem Rucksack. Ich fühlte mich hilflos, weil ich den Lauf, den ihr Leben wahrscheinlich nehmen würde, kaum beeinflussen konnte. Konnte ein Mensch einen anderen retten? Sie drehte sich um und winkte mir zu. Ich winkte zurück. Ich fuhr erst weg, als sie das Gebäude betreten hatte.
    Liebe Astrid,
heute ist es sechs Jahre her. Sechs Jahre, seit ich durch die Tore dieser merkwürdigen Erziehungsanstalt geschritten bin. Wie bei Dante: Nel mezzo del cammin di nostra vita. /Mi ritrovai per una selva oscura./Che la diritta via era smarrita. Der dritte Tag in Folge, an dem wir über 43 Grad haben. Gestern hat eine Insassin einer anderen Frau mit einer verbogenen Blechbüchse die Kehle durchgeschnitten. Lydia hat ein Gedicht zerrissen, das ich über einen Mann geschrieben habe, den ich einmal gesehen habe, über die tätowierte Schlange, die in seiner Jeans verschwand. Ich habe sie gezwungen, es wieder zusammenzukleben, doch du kannst dir nicht vorstellen, wie entnervend es war. Von dir abgesehen, ist sie, glaube ich, die längste Beziehung, die ich je gehabt habe. Sie ist fest davon überzeugt, dass ich sie liebe, obwohl davon nicht die Rede sein kann. Sie bewundert die Gedichte, in denen ich etwas über sie schreibe, und hält sie für öffentliche Liebesbezeugungen.
    Liebe. Ich würde dieses Wort aus dem Wortschatz verbannen. Es ist viel zu ungenau. Liebe, welche Liebe, was für eine Art Liebe? Empfindung, Fantasie, Sehnsucht, Lust? Zwangsvorstellung, verzehrendes Verlangen? Die einzige Liebe ohne jede Einschränkung ist vielleicht die bedingungslose Liebe eines sehr kleinen Kindes. Später wird auch das kleine Mädchen ein Mensch und verliert damit die Kompromisslosigkeit. »Liebst du mich?«, hast du mich aus der Dunkelheit deines schmalen Bettchens gefragt. »Liebst du mich, Mami?«
    »Aber natürlich«, habe ich dir erwidert. »Jetzt schlaf aber ein.« Liebe ist eine Gutenachtgeschichte, ein wohlvertrauter Teddybär, dem ein Auge fehlt. »Liebst du mich, carita?«, sagt Lydia,

Weitere Kostenlose Bücher