Weisser Oleander
ihre Augen leer und weiß wie Steine. Um sie herum standen hohe Wohnblöcke in Brand, mit Dreiecken über zugemauerten Fenstern. Blinde Fenster und ihre blinden Augen, und trotzdem kam sie immer näher, unentrinnbar und wahnsinnig. Ich sah, dass ihr Gesicht zerschmolz und schrecklich formbar wurde. Unter ihren Wangenknochen und Augen waren Höhlen, als hätte jemand seine Daumen in weichen Lehm gepresst.
Diese schweren Tage, wie schwer der tiefe graue Himmel war, meine Flügel waren so schwer, so schwer mein panischer Flug unter der Erde. So viele Gesichter, so viele Lippen, die mir etwas sagen wollten, es machte mich müde, ich schlief ein, während sie sprachen. Sag uns bloß, was passiert ist. Was konnte ich sagen? Als ich den Mund öffnete, fiel ein Stein heraus. Ihre armen weißen Augäpfel. In denen wollte ich Erbarmen finden. Ich träumte von weißer Milch auf der Straße, weißer Milch und Glas. Milch im Rinnstein, Milch wie Tränen. Ich presste ihren Kimono an mein Gesicht, ihren Geruch nach Veilchen und Asche. Ich rieb die Seide zwischen den Fingern.
An jenem unterirdischen Ort lebten viele Kinder, Säuglinge, Teenager, und die Zimmer hallten wie U-Bahn-Schächte. Musik wie ein Zugunglück, Streit, Geschrei, das unablässige Fernsehen. Der schwere Geruch nach Essensdünsten, dünnem, ungesundem Urin, Bohnerwachs. In regelmäßigen Abständen befahl mir die Leiterin, mein Bett zu verlassen und mich mit den anderen an den Tisch zu setzen, vor Teller mit Bohnen, Blattgemüse und Fleisch. Gehorsam stand ich auf, setzte mich hin, aß und kehrte dann in meinen Kokon aus Bett und Schlaf zurück. Unter mir wellte sich eine Gummiunterlage. Fast jede Nacht erwachte ich klitschnass bis an die Achselhöhlen.
Das Mädchen im Nachbarbett hatte Anfälle. Die Nichte der Leiterin erzählte mir mal: »Für behinderte Kinder wie euch gibt’s mehr Geld.«
Rosen trieben in bräunlichen Diagonalen die Zimmerwände hinunter. Ich zählte die Rosen. Vierzig Rosen von oben nach unten, zweiundneunzig von einer Ecke zur anderen. Über der Kommode Jesus, JFK und Martin Luther King junior, alle im Linksprofil, wie Rennpferde am Start, Jesus auf der Außenbahn. Die Frau, die das Haus führte, Mrs. Campbell, dünn wie eine trockene Rosine, wischte mit einem gelben T-Shirt Staub. Die Pferde standen in einer Reihe, pressten sich ungeduldig gegen die Startmaschine. Ihres hatte die Nummer sieben, Medeas Stolz. Jener Tag hatte eine Falltür gehabt, und wir alle waren hindurchgefallen.
Ich zog den Gürtel ihres Kimonos an meinem Mund vorbei, wieder und wieder, den ganzen Tag lang, den Geschmack des Verlusts.
In meinen Träumen kehrte der Tag ihrer Verhaftung immer wieder; sie waren Tunnel, die immer an derselben Stelle endeten. Das Klopfen an unserer Tür. Es war sehr früh gewesen, noch dunkel draußen. Wieder ein Klopfen und dann Stimmen, dann ein Hämmern. Ich lief genau in dem Moment in ihr Zimmer, als die Polizisten die Wohnung stürmten, Polizisten in Uniform, Polizisten in Zivil. Der Hausverwalter stand im Türrahmen, den Kopf mit einer Duschhaube bedeckt. Sie zerrten meine Mutter aus dem Bett, Stimmen wie Hundegebell. Sie schrie sie auf deutsch an, nannte sie Nazis und Schwarzhemden. SS! Zu Befehl, mein Führer . Ihr nackter Körper, die zarten Brüste schaukelten, ihr Bauch rotgesäumt von den Abdrücken des Bettlakens. Es war unmöglich; eine schlechte Fotomontage. Irgendjemand hatte diese Polizisten ausgeschnitten und sie in unser Apartment geklebt. Sie hörten nicht auf, sie anzustarren wie ein schmutziges Heftchen. Ihr Körper wie Mondlicht.
»Astrid, sie können mich nicht dabehalten«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«
Sagte sie. Sagte sie.
Ich saß auf Michaels Sofa, schlief und wartete, so wie Hunde auf ihr Herrchen warten, den ganzen Tag lang und dann den nächsten. Eine Woche ging vorbei, doch sie kam nicht. Sie sagte, sie würde kommen, doch sie kam nicht zurück.
Als sie mich abholten, gaben sie mir fünfzehn Minuten Zeit, mir zu überlegen, was ich aus unserem Apartment mitnehmen wollte. Wir hatten nie viel besessen. Ich nahm ihre vier Bücher, einen Karton mit ihren Tagebüchern, den weißen Kimono, ihre Tarotkarten und ihr Klappmesser.
»Es tut mir so Leid«, sagte Michael. »Ich würde dich zu mir nehmen, wenn ich könnte. Aber du weißt ja selbst, wie es ist.«
Wie es war. Wie es war, wenn die Erde sich unter einem öffnete und einen ganz verschluckte, sich dann
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