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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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schottische Drama« nennen. Michael wollte kein Risiko eingehen; es war schon über ein Jahr her, seit er das letzte Mal etwas außer »Books on Tape« gemacht hatte.
    »Man nimmt es bei Arthritis«, sagte er.
    Ich blätterte durch ein Variety-Heft und fragte möglichst beiläufig: »Ist es gefährlich?«
    »Völlig harmlos«, erwiderte er. Er hob sein Glas und betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit, dann nippte er langsam und schloss dabei zufrieden die Augen.
    Solche guten Neuigkeiten hatte ich nicht erwartet. »Wogegen ist es denn dann?«
    »Es bewirkt, dass Medikamente besser durch die Haut aufgenommen werden. Es wird auch bei Nikotinpflastern verwendet und bei diesen Pflastern, die man gegen Seekrankheit nimmt. Man trägt es auf, und das DMSO hilft dabei, dass die Wirkstoffe durch die Haut in die Blutbahn gehen. Ein Klassezeug! Ich kann mich noch erinnern, dass man früher mal Angst hatte, die Hippies würden es mit LSD mischen und damit die Türgriffe von öffentlichen Gebäuden bestreichen!« Er lachte in sein Glas. »Als ob irgendjemand seinen Stoff an einen Haufen Spießer verschwenden würde!«
    Ich suchte die Flasche mit dem DMSO . Ich konnte sie nirgendwo finden. Ich schaute unter der Küchenspüle nach, im Badezimmer, in den Schubladen – in unserem Apartment gab es eigentlich kaum Stellen, an denen man etwas verstecken konnte, und ganz abgesehen davon war es auch nicht die Art meiner Mutter, Sachen zu verstecken. Ich blieb wach und wartete auf sie. Sie kam spät nach Hause zurück, begleitet von einem gut aussehenden jungen Mann mit langen dunklen Locken, die ihm den halben Rücken hinunterreichten. Sie hielt seine Hand.
    »Das ist Jesus«, sagte sie. »Er ist Dichter. Meine Tochter Astrid.«
    »Hi«, grüßte ich. »Mom, kann ich dich mal eben sprechen?«
    »Du solltest längst im Bett liegen«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da.« Sie lächelte Jesus zu, ließ seine Hand los und begleitete mich auf den überdachten Balkon. Sie sah wieder schön aus, hatte keine Ringe mehr unter den Augen, und das Haar wallte ihr wie Wasser über die Schultern.
    Ich legte mich in mein Bett, und sie deckte mich mit einem Laken zu, dann streichelte sie mir über das Gesicht. »Mom, was ist mit dem Zeug aus Mexiko passiert?«
    Sie lächelte ungerührt weiter, doch ihre Augen verrieten mir alles.
    »Tu es nicht«, sagte ich.
    Sie küsste mich und strich mir mit ihrer kühlen Hand über das Haar, immer kühl, trotz der Hitze, trotz des Windes und der Feuer; dann war sie verschwunden.
    Am nächsten Tag wählte ich Barrys Telefonnummer.
    »Hier ist das Liebesnest«, antwortete eine kichernde Mädchenstimme, die ziemlich bekifft klang. Im Hintergrund konnte ich seine samtige Stimme hören. Dann sprach er in den Hörer. »Hallo?«
    Ich wollte ihn eigentlich warnen, doch plötzlich sah ich nur noch das Gesicht meiner Mutter vor mir, als sie an jenem Tag aus seinem Haus gekommen war. Wie sie sich vor- und zurückgewiegt hatte, ihren rechteckigen Mund. Außerdem – was konnte ich ihm schon sagen: Fass nichts an, iss nichts, sieh dich vor? Er war ihr gegenüber ohnehin schon misstrauisch. Wenn ich ihn warnte, verhaftete man sie womöglich, und meiner Mutter würde ich nicht wehtun – nicht für einen Barry Kolker und seine bumsenden Shiva-Figuren. Er verdiente es. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben.
    »Hallo«, rief er, während die Frauenstimme etwas sagte und dämlich auflachte. »Ach, leck mich doch!«, sagte er dann und legte auf.
    Ich rief nicht noch einmal an.
    Wir saßen auf dem Dach und betrachteten den Mond; rot und riesig in der aschehaltigen Luft kauerte er über der Stadt, die wie ein Ouija-Brett vor uns ausgebreitet lag. Um uns herum heulte ein griechischer Sirenenchor, während meine Mutter mit ihrer irren, tiefen Stimme murmelte: »Sie können uns nichts anhaben. Wir sind die Wikinger. Wir ziehen ohne Rüstung in den Kampf, um Blut- und Siegesrausch zu spüren.« Sie beugte sich vor und küsste meinen Kopf. Sie roch nach Metall und Rauch.
    Der heiße Wind wehte und wehte und hörte nicht mehr auf.

4

    Dann kam eine Zeit, die ich kaum beschreiben kann, eine Zeit unter der Erde. Ein Vogel, gefangen in einem Abwasserkanal, die Flügel schlagen gegen die Decke an diesem dunklen, nassen Ort, während oben die Stadt weiterrumpelt. Ihr Name war Verloren. Sie hieß Niemandstochter.
    In meinen Träumen lief meine Mutter durch eine Stadt aus Ziegeln und Schutt, eine Ruinenstadt nach dem Krieg; sie war blind,

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