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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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anderen Spiralnebeln, die sich mit hoher Geschwindigkeit von uns weg bewegen, bewegt sich Andromeda mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Kilometern pro Sekunde auf uns zu.
    Mein Sozialarbeiter kam uns häufig im Wohnwagen besuchen, saß dann mit Starr auf der Veranda und warf sich unter den Grünlilien in Positur. Eines Tages teilte er mir mit, dass meine Mutter nun im Frauengefängnis von Chino untergebracht worden sei und ab kommendem Donnerstag Besucher empfangen dürfe. Es gab eine Organisation, die dafür sorgte, dass Kinder ihre Eltern im Gefängnis besuchen konnten, und ich würde eine Besuchserlaubnis bekommen.
    Nach der letzten Begegnung mit meiner Mutter hatte ich Angst. Ich wusste nicht, ob ich das noch einmal erleben wollte. Wenn sie immer noch so komisch war, ein Zombie? Ich könnte es nicht ertragen. Und ich fürchtete das Gefängnis, die Gitter und die Hände, die sich durch Eisenstangen schlängelten. Mit ihren Tassen dagegen hämmerten. Wie konnte meine Mutter es dort aushalten – meine Mutter, die weiße Blumen in einer Krakeleeglasvase arrangierte, die stundenlang darüber diskutieren konnte, ob Frost ein bedeutender Dichter war oder nicht?
    Doch ich wusste, wie. Sie würde, von Drogen betäubt, in einer Ecke sitzen, ausdruckslos ihre Gedichte murmeln und Fusselbällchen von der Wolldecke knibbeln. Oder sie würde von Aufsehern und anderen Häftlingen besinnungslos geschlagen. Sie wusste nie, wann man tief fliegen, den Radar meiden musste.
    Und wenn sie mich nun gar nicht sehen wollte? Wenn sie mir den Vorwurf machte, dass ich ihr nicht hatte helfen können? Seit jenem Tag im Gefängnis, als sie mich noch nicht einmal erkannt hatte, waren acht Monate vergangen. Mitten in der Nacht war ich sogar so weit, dass ich gar nicht mehr hinfahren wollte. Doch um fünf stand ich auf, duschte und zog mich an.
    »Denk dran, keine Jeans, nichts Blaues«, hatte Starr mich am Abend vorher ermahnt. »Du willst doch da wieder rauskommen, oder?« Daran musste sie mich nicht erst erinnern. Ich trug mein neues rosa Kleid, den BH und die Daisy-Duck-Schuhe. Ich wollte ihr zeigen, dass ich erwachsen wurde, dass ich selbst auf mich aufpassen konnte.
    Der Kleinbus kam um sieben. Starr stand auf und unterschrieb die Papiere, während der Fahrer ihre weiblichen Formen unter dem Bademantel musterte. Im Bus saß schon ein anderes Kind, ein Junge. Ich setzte mich vor ihn, ebenfalls ans Fenster. Auf dem Weg lasen wir noch drei weitere Kinder auf.
    Der Himmel war an diesem Tag bedeckt, Junitrübsinn, die Luftfeuchtigkeit perlte an der Windschutzscheibe herunter. Man konnte auf dem Freeway kaum bis zur nächsten Überführung sehen. Sie tauchten plötzlich aus dem Nebel auf und verschwanden dann genauso plötzlich wieder, eine Welt, die sich erschuf und wieder auslöschte. Mir wurde ganz schlecht davon. Ich öffnete das Fenster. Wir fuhren eine lange Zeit durch Vorstädte und noch mehr Vorstädte. Wenn ich bloß wüsste, wie es ihr ging, wenn ich dort ankam. Ich konnte mir meine Mutter nicht im Gefängnis vorstellen. Sie rauchte weder, noch kaute sie auf Zahnstochern herum. Sie sagte nicht »Nutte« oder »ficken«. Sie sprach vier Sprachen, zitierte T.S. Eliot und Dylan Thomas und trank Lapsang-Souchong-Tee aus Porzellantassen. Sie hatte noch nie ein McDonald’s von innen gesehen. Sie hatte in Paris und Amsterdam gelebt. In Freiburg und auf Martinique. Wie konnte sie im Gefängnis sein?
    Bei Chino fuhren wir von der Autobahn ab und fuhren Richtung Süden. Ich versuchte mir den Weg einzuprägen, sodass ich ihn im Schlaf wiederfinden würde. Wir fuhren an hübschen Vorstadtsiedlungen vorbei, dann an weniger hübschen, dann wechselten sich frisch abgeteilte Baugrundstücke mit Holzplätzen und landwirtschaftlichen Bedarfshandlungen ab. Schließlich kamen wir aufs richtige Land und fuhren über Straßen ohne Hinweisschilder, vorbei an Molkereien und Feldern; es roch nach Jauche.
    Zu unserer Rechten lag ein großer Gebäudekomplex. »Ist es das?«, fragte ich das Mädchen, das neben mir saß.
    » CYA «, sagte es.
    Ich schüttelte verständnislos den Kopf.
    »Central Youth Authority. Die Jugenderziehungsanstalt.«
    Alle Kinder beäugten grimmig das Gebäude, während wir vorbeifuhren. Auch wir hätten dort sein können, hinter dem Stacheldrahtzaun. Wir wurden totenstill, als wir an der California Institution for Men vorbeifuhren, die ziemlich weit von der Straße entfernt mitten auf einem Feld lag. Schließlich bogen wir auf

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