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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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eine frisch asphaltierte Straße ab, vorbei an einem kleinen Supermarkt, der Kasten Bud zu 5.99 Dollar. Ich wollte das alles in Erinnerung behalten. Die Kinder suchten ihre Taschen und Rucksäcke zusammen. Nun konnte ich das Gefängnis sehen – einen Schornstein, einen Wasserturm, den Wachturm. Die Türme waren aluminiumverkleidet wie Starrs Wohnwagen. Frontera entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen. Ich hatte mir eher etwas vorgestellt wie in »Flucht aus Alcatraz« oder »Lasst mich leben«, mit meiner Mutter als Susan Hayward. Die flachen Backsteingebäude waren großzügig angelegt und wurden von weitläufigen Rasenflächen mit Bäumen und Rosensträuchern unterbrochen. Es wirkte eher wie eine vorstädtische High School als ein Gefängnis. Bis auf die Wachtürme und den Stacheldrahtzaun.
    Von den Bäumen erhoben Krähen ihr heiseres Protestgeschrei. Es klang, als zerrten sie etwas auseinander; etwas, was sie noch nicht einmal wollten, nur weil es ihnen solchen Spaß machte, es zu zerstören. Wir marschierten hintereinander durch den Wachturm und meldeten uns an. Sie durchsuchten unsere Rucksäcke, dann mussten wir durch einen Metalldetektor gehen. Einem Mädchen nahmen sie ein Päckchen ab. Keine Geschenke. Man musste sie per Post schicken; ein Päckchen von der Familie war viermal jährlich erlaubt. Als das schwere Tor hinter uns zuschlug, zuckten wir zusammen. Wir waren eingeschlossen.
    Sie sagten mir, ich solle an einem orangefarbenen Picknicktisch unter einem Baum auf sie warten. Ich war aufgeregt, und mir war noch immer schlecht von der Fahrt. Ich wusste nicht einmal, ob ich sie wiedererkennen würde. Ich zitterte und wünschte, ich hätte mir einen Pullover eingesteckt. Und was würde sie von mir halten mit meinem BH und den hochhackigen Schuhen?
    Hinter dem abgetrennten Besucherhof liefen Frauen umher. Häftlinge mit maskenhaften Gesichtern. Sie warfen uns höhnische Bemerkungen zu. Eine Frau pfiff mir hinterher und leckte sich die Finger, die anderen lachten. Sie hörten gar nicht mehr auf zu lachen. Sie klangen wie die Krähen.
    Die Mütter kamen nacheinander durch ein anderes Tor aus dem Gefängnisgebäude. Sie trugen Jeans und T-Shirts, graue Sweatshirts und Jogginganzüge. Ich sah meine Mutter, die darauf wartete, von der Aufseherin hindurchgeführt zu werden. Sie trug ein einfaches Jeanskleid mit Knopfleiste, doch an ihr wirkte das Blau wie eine Farbe, wie ein Lied. Ihr weißblondes Haar war ihr im Nacken von irgendjemandem abgeschnitten worden, der kein Gefühl für das Handwerk hatte, doch ihre blauen Augen waren so klar wie ein hoher Violinton. Sie hatte nie schöner ausgesehen. Ich stand auf, doch dann konnte ich mich nicht mehr bewegen und wartete zitternd, bis sie herüberkam und mich an sich drückte.
    Nur ihre Berührung zu spüren, sie festzuhalten, nach all den Monaten! Ich legte meinen Kopf an ihre Brust, und sie küsste mich, presste die Nase in mein Haar; sie roch nicht mehr nach Veilchen, nur nach Waschmittel auf Jeansstoff. Sie umfasste mein Gesicht mit den Händen, küsste mich über und über und wischte mir mit ihren kräftigen Daumen die Tränen ab.
    Ich gierte danach, sie zu fühlen, den Klang ihrer Stimme zu hören, sie zu sehen. Ihre gleichmäßigen Schneidezähne, die leicht schräg gestellten Eckzähne, das einzelne Grübchen links von ihrem Mund, ihr halbes Lächeln, ihre wunderbar blauen Augen, weißgesprenkelt wie ferne Milchstraßen, die festen, glatten Ebenen ihres Gesichts. Man sah ihr gar nicht an, dass sie im Gefängnis war; sie sah aus, als sei sie gerade den Venice Boardwalk entlanggelaufen, ein Buch unter dem Arm, um sich in einem der Cafés an der Strandpromenade niederzulassen.
    Sie zog mich neben sich auf die Bank an den Picknicktisch und flüsterte mir zu: »Weine nicht. So sind wir nicht. Wir sind die Wikinger, weißt du das nicht mehr?«
    Ich nickte, doch meine Tränen tropften auf den orangeroten Vinyltisch herunter. »Lois« hatte jemand in die Tischplatte geritzt. »18. Straße. Alte Fotze.«
    Eine der Frauen im betonierten Hof jenseits des abgeteilten Besucherbereichs pfiff durch die Zähne und rief etwas, irgendetwas über meine Mutter oder mich. Meine Mutter sah hoch. Ihr eisiger Blick traf die Frau voll ins Gesicht, wie ein Faustschlag. Sie verstummte abrupt und drehte sich schnell weg, so als sei es nicht sie gewesen, die etwas gesagt hatte.
    »Du bist so schön«, sagte ich und berührte ihr Haar, ihren Kragen, ihre Wange. Ganz und gar nicht

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